Rodins "Denker" versteigert
30. Juni 2022Etwa 70 Zentimeter hoch, in Bronze gegossen, sitzt er auf einem Sockel. In sich gekehrt, gebeugt, das Haupt auf den rechten Handrücken gestützt. Sein Körper ist bis in jeden Muskel angespannt. So sinniert er über das, was er geschaffen hat. "Der Denker" ist eine auf der ganzen Welt bekannte Skulptur - erschaffen hat ihn der französische Bildhauer Auguste Rodin zwischen 1880 und 1882. Das ikonische Werk soll den italienischen Dichter und Philosophen Dante Alighieri (1265 - 1321) darstellen, der in seiner "Göttlichen Komödie" über dem Höllentor über die Menschheit und deren Handeln nachdenkt. Das sagt zumindest eine der Theorien, die sich um die Figur ranken. Dafür spricht, dass Rodin sie als Teil des Höllentors geschaffen hat, das als Auftragsarbeit den Eingang des Pariser Musée d'Orsay ziert. Eine andere Theorie lautet, es sei Rodin höchstselbst, der über sein Werk reflektiert.
Viel zu große Füße
Mit dieser Figur hat Auguste Rodin (1840 - 1917) etwas völlig Neues gewagt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellten Skulpturen und Statuen vor allem Vollkommenheit dar - Frauen mit den Schönheitsidealen entsprechenden Körpern, feinen Gesichtszügen und vollem Haar, muskulöse großgewachsene Männer mit edler Haltung; Gottheiten, berühmte Persönlichkeiten. Rodin setzt mit seinem Denker einen unbekannten, namenlosen Mann auf den Sockel, der viel zu große Füße und Hände sowie eine gekrümmte Nase hat, dessen Körper eigentümlich verbeult und dennoch muskulös und sehnig wirkt. Rodin zeigt, wie er gearbeitet hat, es ist fast physisch spürbar, wie er im Atelier so lange modellierte, bis er zufrieden mit dem Ergebnis war.
Der französische Preisboxer und Ringer Jean Baud, der meist im Rotlichtmilieu auftrat, hat dafür dem Bildhauer Modell gestanden, nicht nur für den Denker, auch für andere Figuren, die Rodin in diesem neuen aufregenden Stil geschaffen hat. Rodin legte viel Wert auf eine genaue Studie des menschlichen Körpers; in seinem Werk finden sich viele Torsen oder einfach nur einzelne Körperteile, wie etwa Beine - die das Laufen darstellen sollten. Den Menschen in Bewegung zeigen, selbst wenn die Figur sich nicht bewegt, die Darstellung von Lebensenergie - das war Rodins Absicht. Vollkommenheit in seiner herkömmlichen Form war nicht sein Thema - die konnte man sich ja hinzudenken, wenn man das Werk betrachtet. So fliegen Rodins Figuren, sie fallen, sie schreiten - oder sie sitzen. Mal ohne Beine, ohne Arme, ohne Kopf, mal "vollständig" - wie der Denker.
Nachdem das Original des Denkers 72 cm hoch war, schuf Rodin 20 Jahre später eine 181 cm hohe monumentale Statue.
Auf der ganzen Welt verteilt
An die 40 Bronzegüsse und Gipsabgüsse des Denkers gibt es weltweit, hinzu kommen unzählige Kopien in unterschiedlichen Größen und Materialien - verteilt in der ganzen Welt, in Museen, in Privatsammlungen, auf öffentlichen Plätzen. So stehen Abgüsse des "Moyen Modèle", also der 72 cm hohen Figur etwa in Tokio, Toronto, Rom oder in Kopenhagen. Das Original ist in Paris zu bestaunen, und ein Abguss stand bis zum Anschlag des 11. September 2001 im Nordturm des World Trade Center, hat die Katastrophe nahezu unbeschadet überstanden und verschwand dann auf ungeklärte Weise.
Das nun bei Christie's zu versteigernde Werk stammt aus einer Privatsammlung des Innenarchitekten Alberto Pinto. Die Statue war nach dem Tod Rodins 1928 gegossen worden. 2013 war ein anderes Exemplar des Denkers über Sotheby's in New York für etwa 15 Millionen Dollar (14,3 Millionen Euro) versteigert worden. "Der Denker" in Paris brachte es dagegen "nur" auf 10,7 Millionen Euro und blieb damit unter den Erwartungen des Auktionshauses Christie's.