Wenn in rund anderthalb Jahren das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro angepfiffen wird und weitere zwei Jahre später die Olympischen Spiele 2016 die Jugend der Welt nach Brasilien locken, sollen die vielen tausend WM- und Olympia-Besucher zumindest rund um die Veranstaltungsstätten ein Rio de Janeiro kennenlernen, dass nur schöne Bilder produziert. Deshalb lässt die Stadt bereits seit Monaten die Armenviertel der Stadt, die sogenannten Favelas, durch Spezialkommandos der Polizei von Drogengangs säubern. Die Aktionen sind sehr umstritten, denn nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kommt es dabei auch zu zivilen Opfern.
Einer der schärfsten Kritiker der Polizeiaktionen ist Antonio Costa. Er glaubt, dass die Verdrängung in die Außenbezirke das falsche Signal ist. Rund um Rios Veranstaltungsstätten werde es eine sichere Zone geben, die Gewalt aber stattdessen in die Außenbezirke der Metropole exportiert. Hier leben die Menschen, die sich gegen diese Stadtplanung nicht wehren können. Spekulanten interessieren sich für das Bauland, die Mieten in den gesäuberten Favelas steigen. Viele Menschen müssen ihre Wohnungen daher verlassen, weil sie die höheren Preise nicht mehr bezahlen können. Wie in der Favela "Vila Autódromo", deren Bewohner sich weigern das Gelände zu räumen, um lukrativen Neubauten Platz zu machen.
Es gibt aber auch positive Beispiele: Die Favela Santa Marta gilt als Vorzeigeobjekt für gelungenen Strukturwandel. Touristen können dort für 30 Dollar sogar eine speziell organisierte Favela-Tour buchen, um den Alltag in einem befriedeten Armenviertel kennenzulernen.
Elf Tote als Schlüsselerlebnis
Antonio Costa ist Gründer der Menschenrechtsorganisation Rio de Paz, die für eine Reduzierung der Gewalt und Mordrate in der künftigen Olympiastadt kämpft. Vor sechs Jahren hat den 50 Jahre alten Brasilianer ein Schlüsselerlebnis dazu bewogen, seinen bisherigen Lehrberuf als Theologe an einer Hochschule aufzugeben und sich fortan für die Menschenrechte einzusetzen. Er kämpft gegen die Gewalt der Drogengangs genauso wie die Menschenrechtsverletzungen der Polizei: "Am 28. März 2006 hat die Drogenmafia in Rio de Janeiro 19 Menschen an nur einem Tag ermordet. Elf von ihnen verbrannten in einem Bus. An diesem Tag habe ich mich entschieden, auf die Straße zu gehen."
Anfangs stand Costa allein auf weiter Flur, da es sehr schwierig war, die Leute überhaupt dazu zu bewegen, gemeinsam und öffentlich zu demonstrieren: "Wir haben keine Kultur einer öffentlichen Beteiligung. Deswegen habe ich mich entschieden mit schockierenden Bildern zu arbeiten", erklärt Costa. "In März 2007 haben wir am berühmtesten Strand Brasiliens, direkt vor dem Luxushotel Copacabana Palace einen Friedhof mit 700 Kreuzen im Stil der Soldatenfriedhöfe der Normandie aufgebaut, um auf die vielen Toten der Gewalt in Rio de Janeiro aufmerksam zu machen. Das war etwas ganz neues für Brasilien, alle Medien haben darüber berichtet. An diesem Tag ist unsere Bewegung geboren."
Nachhaltiges Konzept für Armenviertel
Heute ist Costa einer der bekanntesten Menschenrechtler in Rio de Janeiro. Er wird in Talkshows eingeladen und schreibt regelmäßig Kolumnen für die Zeitungen der Olympiastadt. Costas Organisation Rio de Paz stellt kritische Fragen. Seine Mitstreiter demonstrieren vor dem Parlament oder den Gerichtsgebäuden in Rio und heben schweigend Transparente und Plakate in die Höhe. "Wo ist Juan", fragt eines dieser Spruchbänder. Es geht um einen kleinen Jungen, der seit Monaten vermisst wird. Schicksale wie des kleinen Juan gibt es hunderte in Rio. Kinder, aber auch Erwachsene werden das Ziel von Gewalttaten, die niemals aufgeklärt werden. Costa macht alle Teile der brasilianischen Gesellschaft für die hohe Zahl von Verschwundenen verantwortlich. Die Drogenmafia genauso wie die Polizeikräfte.
Costas Organisation Rio de Paz hat einen Katalog von Forderungen an die Politik erarbeitet. Die vorgeschlagenen Maßnahmen der Menschenrechtler sollen zu einer spürbaren Reduzierung der Gewalt und den Fällen von vermissten Kindern führen. "Unser Hauptziel ist die Reduzierung der Mordrate. Wir glauben, dass wenn die Regierung fünf unserer Forderungen umsetzen wird, könnten tausende von Menschenleben gerettet werden", sagt Costa. Rio de Paz fordert eine Polizei-Reform. Transparenz soll für eine bessere Kontrolle der Polizeiaktivitäten sorgen, Verhaftungen besser dokumentiert werden. Die Zustände in den Justizvollzugsanstalten, in denen Häftlinge im Hochsommer bei bis zu 50 Grad auf engsten Raum zusammengepfercht sind, sollen verbessert werden.
Costa und seine Mitstreiter wünschen sich außerdem eine Selbstverpflichtung aller Bundesstaaten in Brasilien, die Reduzierung der Mordrate in Angriff zu nehmen: "Damit das Thema endlich auf die Tagesordnung kommt." Kernforderung ist aber ein nachhaltiges Politikkonzept für die Armenviertel Brasiliens. "Wir müssen in Bildung und Infrastruktur investieren, den Menschen das Gefühl geben, nicht länger ausgeschlossen zu sein." Costa glaubt, dass die Milliarden-Investitionen in neue Stadien, Flughäfen und Verkehrsachsen zwar dem Mittelstand und der Oberschicht nutzen, die Armen vom Wohlstand weiter ausschließen: "Ich hätte mir gewünscht, dass die Hälfte der Investitionen in Neubauten und die andere in soziale Projekte fließen." Die Regierung widerspricht und verweist auf eine spürbare Belebung des Arbeitsmarktes durch die Infrastrukturmaßnahmen.
Ex-Weltmeister Jorginho hilft
Einer seiner prominentesten Unterstützer ist der ebenfalls tiefgläubige Ex-Weltmeister Jorginho, der in der Bundesliga vor Jahren einst für Bayer Leverkusen und Bayern München spielte. Jorginsho lobte öffentlich das Engagement der Aktivisten. "Das war für uns wie ein Ritterschlag, denn sein Ruf in Brasilien ist tadellos", ist Costa dem Ex-Nationalspieler dankbar.
Während der sportlichen Großereignisse in den nächsten Jahren will Costa die Präsenz der vielen internationalen Journalisten nutzen, um auf die Situation in Rio de Janeiro aufmerksam zu machen. Bei der Auslosung zum Konföderationen-Pokal in Sao Paulo Anfang Dezember gelang ihm bereits ein kleiner Coup. Vorbei an allen Sicherheitskräften gelangen seine Mitstreiter ins Innere des Veranstaltungsareals. Vor den Kameras der internationalen Medienvertreter entrollten die Demonstranten ein Plakat: "Tausende Morde in zehn Jahren. Eine Schande", war darauf zu lesen.
Das aber soll erst der Anfang sein. Denn er ist skeptisch, dass sich an der Situation für die ärmsten Bewohner Rios durch die WM und Olympia etwas ändern wird: "Ich bin sehr stolz, dass die Olympischen Spiele in Rio stattfinden werden. Ich bin hier geboren, ich liebe diese Stadt. Für die Menschen aus der Mittelschicht wie mich ist das wunderbar zu sehen, was sich alles verändert. Aber ich kann nicht erkennen wie in all diesen Plänen die armen Menschen integriert werden."