Auf Wagners Spuren in Eisenach
12. Januar 2013"Wir erreichen in einigen Minuten Eisenach", verkündet der Zugbegleiter über Lautsprecher. Und dann quietschen die Bremsen auch schon und wer raus will, muss sich sputen. Keine zwei Minuten verharrrt der ICE hier.
Richard Wagner rumpelte im April 1842 in der Kutsche durch das von Regenwolken verhangene Tal von Eisenach. Eine lange und beschwerliche Reise aus dem fernen Paris lang hinter ihm. Bis nach Dresden, wo seine Oper "Rienzi" im Oktober uraufgeführt werden sollte, war es nun nicht mehr weit. Aber zuvor kam es noch zu dieser schicksalhaften Begebenheit. Zu diesem "symbolischen Vorgang", wie Wagner selbst später notierte. Eben hier, im Tal von Eisenach, rissen die Wolken damals nämlich jäh auf. Und Richard Wagner, durch dessen Kopf zu dieser Zeit unablässig die Tannhäuser-Sage schwirrte, erblickte zu seiner Verwunderung auf einem seitlich gelegenen Bergrücken die langgestreckte Wartburg.
Der sagenhafte Sängerwettstreit der berühmtesten Minnesänger, der hier hunderte von Jahren zuvor stattgefunden haben soll, sei ihm nun eingefallen, schreiben Wagners Biografen. Und sogleich wären in der lebhaften Phantasie des Komponisten zwei Sagen miteinander verschmolzen - zu der Idee von der Oper "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg". Worauf sich die Wolkendecke über Burg und Berg wieder schloss und der Regen erneut auf das Dach von Wagners Kutsche rauschte.
Auf Schritt und Tritt Kultur
Eisenach liegt am Nordwestende des Thüringer Waldes. Die Stadt hat einen hübschen alten Bahnhof mit hölzernen Pendeltüren in der Eingangshalle. Die öffnen sich wie von unsichtbarer Hand und spülen den Ankömmling hinaus. Auf den Straßen quirlige Betriebsamkeit, forsche Busse und Passanten, die beim Bäcker, im Drogeriemarkt und im Kaufhaus allerlei zu besorgen haben. In gebeugten Fachwerkhäusern haben sich Filialen bekannter Bekleidungsgeschäfte eingerichtet, die Thüringer Bratwurst, auf dem Rost knusprig gegrillt, kostet zwei Euro. Und der nahezu quadratische Marktplatz beeindruckt mit Schloss, Renaissance-Rathaus und der Georgenkirche, in der Martin Luther gepredigt hat und Johann Sebastian Bach getauft wurde. Beiden Herren begegnet man in der Stadt immer wieder, auf Hinweistafeln, als Namenspatron von Schänken und Restaurants sowie insbesondere in umfassenden Ausstellungen im historischen Luther- beziehungsweise Bachhaus.
Richard Wagner hat nie in Eisenach gelebt. Aber er ist wieder hierhergekommen, nach jener unvergesslichen Kutschfahrt, und hat die Wartburg besucht. Seit mehr als 150 Jahren lümmelt er dort nun zwischen den Minnesängern Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide auf einem Fresko des Malers Moritz von Schwind. Der übernahm 1854/55 die Ausmalung der restaurierten Wartburg und hatte die schöne Idee, auf seiner Illustration der Schlüsselszene des Sängerwettstreits auch Berühmtheiten wie Goethe, Schiller, Luther, Liszt und eben Wagner zu verewigen.
Immer wieder Wagner
Heute wird der nicht abreißende Besucherstrom im Halbstundentakt durch das Weltkulturerbe Wartburg und seine wechselvolle Geschichte geführt - Romanik, Gotik, Renaissance, Historismus, Lutherstube, Fürsten, Großherzöge, Heilige Elisabeth und im zweiten Obergeschoss wieder Wagner, diesmal als Hörprobe: Tannhäuser, Einzug der Gäste. Franz Liszt, Komponist, Pianist, Dirigent und Vater von Richard Wagners zweiter Ehefrau Cosima, hat dem Saal zu seiner trapezförmigen Kassettendecke und der guten Akustik verholfen. Und er hat das Festkonzert zur Einweihung im Jahre 1867 dirigiert. Im Publikum saß inkognito auch Bayerns König Ludwig II. Der war vom Festsaal so begeistert, dass er eine etwas kleinere Kopie anfertigen ließ - für sein Schloss Neuschwanstein, eine bewohnbare Theaterkulisse mit vielerlei Bezügen zum Werk des von ihm bewunderten und geförderten Richard Wagner.
Eisenach ist ein bedeutender Wirtschaftsstandort und eine Industriestadt, die auf 100 Jahre Automobilbaugeschichte zurückblicken kann. Heute produzieren hier rund 1800 Fachkräfte den Opel Corsa. Das historische Stadtzentrum liegt in einem Talkessel. Aber schon im 19. Jahrhundert ist Eisenach die umliegenden Hügel hinauf gewachsen. In der Zeitspanne zwischen 1862 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zog es zahlreiche vermögende Pensionäre, Industrielle und Künstler aus ganz Deutschland in die thüringische Stadt. Sie haben sich hier ihren Alterssitz eingerichtet und in seltener architektonischer Vielfalt komfortable Häuser entwerfen lassen.
Bei Reuter zu Hause
Dem mecklenburgischen Dichter Fritz Reuter hat Eisenach auch gefallen. Vom reichen Ertrag seiner Bücher hat er sich ab 1866 in feinster Hanglage eine Villa im italienischen Stil bauen lassen. Heute darf sich jeder in seinen Wohnräumen in der Beletage umsehen, über die knarrenden Böden schreiten, Reuters Schreibtisch berühren und durch die getrübten Fensterscheiben hinausschauen in eine Bilderbuchlandschaft. Und ein bisschen staunen darf man auch. Über die Zufälle, die das Leben so spielt. Denn in Fritz Reuters Haus hat noch einer Unterschlupf gefunden. Und der heißt - Richard Wagner!
Über 20.000 Exponate, darunter eine raumgreifende Bibliothek mit der nahezu vollständigen Wagner-Sekundärliteratur des 19. Jahrhunderts, an die 200 Büsten in unterschiedlichsten Größen, Partituren, Tausende von Zeitungsartikeln, Handschriften und ein erstaunliches Kuriositätenkabinett hatte der leidenschaftliche Sammler und Wagner-Bewunderer Nicolaus Oesterlein (1841-1898) im Laufe der Jahre zusammengetragen. Und sich damit völlig übernommen. 1895 musste er verkaufen. Aber er hatte Glück. Denn der Eisenacher Bürger Professor Joseph Kürschner schätzte Wagner, erinnerte an dessen Verbindung zur Stadt und brachte mit Hilfe einer Stiftung das nötige Geld zusammen, um die Oesterlein-Sammlung nach Eisenach zu holen.
Das älteste Museum der Stadt
Kürschner ist es auch zu verdanken, dass die Stadt nach dem Tod von Luise Reuter in den Besitz der Reuter-Villa gelangte. Und so kam eins zum anderen. Bereits im Juni 1897 wurde das Reuter-Wagner-Museum eröffnet, es gilt als das älteste Museum der Stadt und entfaltet, weil in ihm die Zeit stehen geblieben scheint, noch heute einen ganz eigenen Reiz. Im Erdgeschoss der Villa empfängt eine Büste Wagners die Besucher und zieht sie in eine verschwundene Welt, zu Bausätzen vom ersten Festspielhaus in Bayreuth, Rheingold-Sekt-Etiketten, Wagners Pfeifenetui und einem Abdruck seiner Totenmaske, zu vergilbten Theaterzetteln, Karikaturen, frühen Entwürfen für Bühnenbilder und Partituren mit handschriftlichen Anmerkungen Wagners. Ruhe liegt über dem Haus, im Garten zwitschern die Vögel. Und wenn eine Kutsche vorführe, niemand würde sich wundern.