RIAS: Immer mehr antisemitische Vorfälle in Berlin
28. November 2024Die "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin" (RIAS) spricht bei der Vorstellung der neuen Zahlen von einem "neuen Ausmaß" des Antisemitismus. Demnach dokumentierte sie von Jahresbeginn bis Ende Juni insgesamt 1383 als antisemitisch eingestufte Vorfälle in der deutschen Hauptstadt. Das sind mehr als im gesamten Jahr 2023. Gut die Hälfte, 715, seien Online-Vorfälle: Beschimpfungen, Drohungen und Beleidigungen im Internet.
Bisher präsentiert RIAS Berlin nur einmal, in den ersten Monaten des Jahres, die Zahlen für das gesamte Vorjahr. Jetzt heißt es, der Trend sei Grund genug, ausnahmsweise auch Halbjahreszahlen vorzulegen.
"Aus der beispiellosen temporären Ausnahme scheint nun ein Zustand zu werden", sagt Julia Knopp, Projektleiterin von RIAS Berlin. Es gebe keinerlei Anzeichen für einen Rückgang. Alle Redner mahnten politische Akteure und die Zivilgesellschaft zu mehr Engagement gegen Antisemitismus. Man dürfe die jüdische Gemeinschaft damit nicht allein lassen.
Gewalt gegen junge Juden: Schläge und Tritte
Das unterstreicht eine Schilderung aus einer Berliner Synagoge. Praktisch jedes Mitglied der Gemeinde, erzählt einer der Repräsentanten bei der Vorstellung der neuen Zahlen, könne persönliche Erfahrungen wie Beleidigungen oder Übergriffe schildern.
Zwei Fälle extremer Gewalt in Berlin-Mitte erregten medial Aufsehen und werden im Bericht geschildert: An einem Februar-Abend wurde ein jüdischer Student von einem Mitstudenten mehrfach ins Gesicht geschlagen und, nachdem er zu Boden gestürzt war, getreten. Im Mai wurde ein jüdischer Ukrainer zu Boden gestoßen und mit einem E-Roller angefahren. Beide mussten im Krankenhaus operiert werden, im ersten Fall war ein längerer Klinikaufenthalt nötig.
Angriff auf einen Ukrainer: "Keiner griff ein"
Der junge Ukrainer, der im Mai auf dem Weg zur Synagoge in der Nähe des Bahnhofs Gesundbrunnen unter "Free Palestine"-Rufen verletzt wurde, war vor dem russischen Angriffskrieg aus seiner Heimat nach Berlin geflohen. Er hatte bereits mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen.
Durch den Angriff in Berlin erlitt er nach Angaben von Anna Chernyak Segal, der Geschäftsführerin der neo-orthodoxen jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel, ein "sehr schweres psychisches Trauma, das er bis heute bekämpfen muss".
Gerade dieser Fall besorgt Segal: "Die Tat geschah am hellichten Tag, mitten auf der Straße, vor einem Laden. Da standen Leute herum. Umstehende machten Handy-Aufnahmen. Aber keiner griff ein." Und niemand habe sich als Zeuge der Tat bei der Polizei gemeldet. "Das ist mir wirklich ein Rätsel."
Gelegentlich gibt es nach der Vorstellung solcher Studien Diskussionen auf Expertenebene darüber, ab wann kritische Graffiti oder Zwischenrufe als "antisemitisch" zu bewerten seien. Eine persönliche Schilderung von Segal zeigt, wie umstrittene Symbole auf Juden wirken.
Die mehrfache Mutter ging an einem heißen Sommertag mit ihren Kindern ins Freibad. Aber ins Schwimmbadgelände kam man nur, indem man vorbeiging an einem großen roten, nach unten gerichteten Dreieck. Damit markiert die Hamas, die am 7. Oktober 2023 den Terrorangriff auf Israel verübte, Feinde oder Angriffsziele. Diese Bedeutung kannten auch die Kinder - in Berlin finden sich zahllose solcher roter Dreiecke.
Der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, mahnt, letztlich sei in der deutschen Hauptstadt keine jüdische Veranstaltung mehr ohne Polizeischutz oder Sicherheitsfirmen möglich. Das gelte für eine Puppentheater-Aufführung für Kinder ebenso wie für eine Sportveranstaltung oder ein öffentliches Gemeindefest. Militanter Judenhass sei "reell geworden".
Antisemitismus in Schulen
RIAS Berlin verzeichnete laut Studie auch 27 antisemitische Vorfälle an Schulen. Sie verteilen sich auf neun der zwölf Berliner Bezirke. Kinder wurden geschlagen, bespuckt oder beleidigt.
Königsberg spricht von einer sich wandelnden gesellschaftlichen Stimmung. Als Beleg verweist er auf eine Veränderung beim Schulbesuch. Noch vor wenigen Jahren hätten rund zwei Drittel der Kinder eines der jüdischen Gymnasien der Stadt aus Neugier oder Interesse besucht.
Nur ein Drittel habe sich an einer anderen öffentlichen Schule nicht wohlgefühlt oder sei verängstigt worden. "Das Verhältnis hat sich jetzt rumgedreht", sagt er. Es bestehe das Bedürfnis nach einem geschützten Raum, den es an öffentlichen Schulen nicht mehr gebe.
Vor knapp zehn Tagen hatte die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik Juden und Homosexuelle zur Vorsicht in manchen Stadtvierteln aufgerufen. Es gehe um arabisch dominierte Orte, sagte sie. Dafür steckte sie viel Kritik ein.
"Für uns war das aber eine realistische Bestandsaufnahme. Wir wissen das schon lange. Wir haben uns gefreut, dass das mal jemand bestätigt und zugegeben hat", sagt Chernyak Segal von der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel.
Der RIAS Bundesverband wird die gesamtdeutschen Zahlen für das Jahr 2024 erst 2025 vorlegen. Nirgends sonst in Deutschland gibt es ähnlich viele jüdische Gemeinden und Institutionen wie in Berlin. Deshalb ist die Entwicklung in der Hauptstadt nicht anders, aber doch deutlicher als in anderen Teilen Deutschlands.