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"Mein Vater hat Solschenizyn sehr geschätzt"

Gleb Gavrik
11. Dezember 2018

Alexander Solschenizyn und Heinrich Böll waren richtige Freunde, sagt René Böll im Gespräch mit der DW. Der Sohn des deutschen Schriftstellers erinnert sich an die Begegnungen der beiden Literatur-Nobelpreisträger.

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René Böll
Bild: DW/S. Peschel

Deutsche Welle: Неrr Böll, Ihr Vater Heinrich Böll hatte sehr großes Interesse an Russland und dem Leben in der Sowjetunion. Er genoss sowohl im Westen als auch im Osten hohes Ansehen. Er unterhielt enge Beziehungen zu vielen bekannten Intellektuellen und Künstlern in der Sowjetunion, unter ihnen auch Alexander Solschenizyn. Kann man in diesem Fall von einer richtigen Freundschaft sprechen?

René Böll: Ich glaube, dass man von einer richtigen Freundschaft sprechen kann, obwohl beide politisch sehr weit auseinander lagen. Aber er hat Solschenizyn als sehr wichtigen und sehr guten Autoren geschätzt, als Freund und als Kämpfer für die Freiheit.

Was hat Ihr Vater über den Menschen Solschenizyn erzählt?

Sehr wichtig für ihn war eigentlich die Unerbittlichkeit Solschenizyns, sein enormer Kampf mit großen persönlichen Risiken und  Entbehrungen, Gefängnis und Verfolgungen. Mein Vater hat ihn unterstützt, weil wir wussten, dass eine Publikation im Westen den Menschen im Osten hilft. Viele Menschen hier haben das bezweifelt.

Der ehemalige DW-Mitarbeiter Vladimir Fradkin, Sohn von Ilya Fradkin, der die Werke ihres Vaters ins Russische übersetzt hat, berichtete einmal von einer spannenden Begebenheit: Ihr Vater Heinrich Böll hat ein Manuskript von Solschenizyn auf eigene Gefahr mitgenommen, um es im Westen zu veröffentlichen. Wissen Sie etwas darüber?

Ich war selbst dabei und habe das mit über die Grenze gebracht. Wir haben mehrere Manuskripte über die Grenze gebracht, nicht nur von Solschenizyn, auch von vielen anderen, von Leuten, die vor allen Dingen zur damaligen Zeit aus dem Lager berichtet haben. Sie alle waren Menschen, die im Osten, in Russland nicht publizieren durften.

Wie lief das Ganze ab? Die sowjetischen Behörden wären nicht begeistert gewesen, wenn sie davon erfahren hätten.

Es waren ja nicht nur wir. Auch sehr viele Diplomaten und Journalisten haben mitgemacht. Es war ein ganzes Netzwerk, das sehr gut funktioniert hat. Wir haben die Sachen einfach in die Manteltaschen reingesteckt und fertig! Wir sind bei der Ausreise nicht streng kontrolliert worden. Ich bin damals mit meinem Vater mit dem Zug zurückgefahren, weil wir dachten, da würde weniger kontrolliert. Und das war wohl auch so.

Ihr Vater hat Solschenizyn in Deutschland als Erster empfangen. Hat er selbst entschieden, seinen Freund aus Russland zu empfangen, oder war das Solschenizyns Wunsch?

Ich glaube, das war Solschenizyns Wunsch, dem mein Vater natürlich gern nachgekommen ist. Er wurde direkt vom Flughafen zu meinen Eltern gebracht. 

Heinrich Böll und Alexander Issajewitsch Solschenizyn
Heinrich Böll und Alexander Solschenizyn im Februar 1974 in DeutschlandBild: Imago/Sven Simon

Wie lange blieb er in Ihrem Elternhaus?

Ich glaube, er war zwei, drei Tage da. Es war ein riesiger Presserummel. Das war ein Haus auf dem Land, das ziemlich einsam stand. Es war ein richtiger Menschenauflauf.

Hat sich Ihr Vater danach öfter mit Solschenizyn getroffen?

Ja, er hat ihn immer wieder getroffen, mit ihm korrespondiert - immer mit einem Dolmetscher. Ich glaube, Solschenizyn konnte kein Englisch. Mein Vater hat mehrere Bücher von ihm rezensiert. Das war für ihn sehr wichtig. Er hatte uns Kindern empfohlen, die Romane "Der erste Kreis der Hölle", "Krebsstation" und andere zu lesen, natürlich auch den "Archipel GULAG".

Was hat Ihr Vater ihnen über das Leben in der Sowjetunion erzähl? Damals war es sehr schwierig, Kontakte dorthin zu knüpfen und die Sowjetunion zu besuchen.

Er ist mehrfach mit uns Kindern - wir waren damals Jugendliche - dort hingefahren. Er war einerseits offizieller Gast; und andErerseits hat er Dissidenten getroffen. Das eine war ohne das andere nicht möglich. Wir wurden mit einer "Tschajka", einem riesigen amerikanisch nachgebauten Auto, vom Flughafen abgeholt - praktisch als Staatsgäste. Mein Vater war in Russland als Antifaschist sehr angesehen, aber seine Essays sind dort nicht erschienen. Die sind dann im Samisdat (Selbstverlag von nicht systemkonformer Literatur im Ostblock - Anmerk. d. Red.) übersetzt worden.

Ihr Vater war, wie Sie sagen, in der Sowjetunion als Antifaschist sehr angesehen. Aber gleichzeitig stand er dem System auch ziemlich kritisch gegenüber.

Er hat sich immer für die Leute eingesetzt, die im Lager waren. In den 60er Jahren waren es noch viele. Es war leider die Praxis in der Sowjetunion, die Leute nach Sibirien zu verfrachten. Später kam die Ausbürgerung, das war in den 70er und 80er Jahren. Ich weiß, mein Vater hat sehr viele Medikamente mitgebracht, Geld gegeben, sich für Leute eingesetzt. Alles natürlich inoffiziell.

René Böll ist ein deutscher bildender Künstler. Er war Leiter des Lamuv Verlages. Außerdem ist er Nachlassverwalter seines Vaters Heinrich Böll.

Das Gespräch führte Gleb Gavrik.