Remco Evenepoel - ein neuer Eddy Merckx?
25. September 2019Die Fahrt begann mit einer Schrecksekunde: Remco Evenepoel rollte von der Startrampe, beschleunigte und hörte dann plötzlich auf zu treten. Mit der rechten Hand nestelte er an seiner Aero-Socke, zog sie in aller Ruhe ein Stückchen nach oben. Dann setzte er seine Fahrt fort. Was auch immer ihn am Sitz des dünnen Stücks Lycra-Stoff gestört hat, es hielt ihn nicht lange auf.
Denn der 19-jährige Belgier stürmte förmlich über den 54 Kilometer lange Parcours der Zeitfahr-WM. Schon bei der ersten Zwischenzeitnahme lag Evenepoel auf dem zweiten Rang, klar vor gestandenen Profis wie Vuelta-Sieger Primoz Rogic oder dem vierfachen Weltmeister Tony Martin. Und das Beeindruckende daran war: Evenepoel hielt sein Tempo, wurde gegen Ende im Vergleich zu Konkurrenz sogar noch etwas schneller. Mit einem veritablen Sprint raste er auf die Zielgerade in Harrogate und setzte sich mit einem deutlichen Vorsprung von 46.07 Sekunden vor dem Zweitplatzierten Filippo Ganna aus Italien an die Spitze des WM-Rennens.
Mit einem kurzen Winken in Richtung Publikum nahm Evenepoel kurz darauf Platz auf dem heißen Stuhl des Führenden im Ziel. Ein kurzer Handshake mit den Konkurrenten, ein Lächeln, das war's. Von Nervosität keine Spur, seine Körpersprache ist bereits die eines Champions. Nur ein Fahrer sollte am Ende noch schneller sein: Rohan Dennis. Der Australier, der sich während der Tour de France mit seinem Team überwarf und unter rätselhaften Umständen aus dem Rennen ausstieg, war im WM-Zeitfahren eine Klasse für sich und gewann mit 1:09 Minuten Vorsprung vor Evenepoel sein zweites Zeitfahrgold in Folge nach seinem Triumph 2018 in Innsbruck.
Ihn zu unterschätzen, ist meist ein Fehler
Doch auch der Zweitplatzierte darf sich an diesem Tag als Sieger fühlen: Noch nie fuhr ein 19-Jähriger so stark bei einem WM-Zeitfahren. Und wieder einmal strafte Evenepoel diejenigen Lügen, die ihn für noch nicht reif genug hielten. Bei seinem Sieg im EM-Zeitfahren hatte er verblüfft, aber dieses Rennen war nur 22 Kilometer lang. Die anspruchsvolle WM-Strecke durch die britische Region Yorkshire sei dann doch noch zu lang für den jungen Himmelsstürmer des Radsports, orakelten im Vorfeld einige Experten. Ähnliches hatten sie über ihn gesagt, als er nach seinem Weltmeistertitel bei den Junioren vor einem Jahr ohne Umweg über die U23-Klasse direkt in die WorldTour wechselte - ehe er dort bereits neun Saisonsiege einfuhr. Und auch vor seiner ersten Teilnahme an einem Klassiker in San Sebastián dachten die meisten, Evenepoel würde starten, um zu lernen. Er gewann und zwar als überlegener Solist.
Wie ist das möglich in einem Sport, in dem Vieles über Reife, Erfahrung und vor allem jahrelang antrainierte Rennhärte läuft? Darüber rätseln derzeit viele im Radsport, der aus gemachten Erfahrungen bei Überfliegern schnell argwöhnisch wird. In Belgien hört man keine Zweifel, im Gegenteil: Aus der radsportverrückten Nation begleitet längst ein Fanclub den Newcomer zu internationalen Rennen, Evenepoel tritt im Fernsehen auf und wird in den Medien mit keinem geringeren als Eddy Merckx verglichen. Der ultimative Ritterschlag in Belgien, das den inzwischen 74-Jährigen Merckx unlängst beim Start der Tour de France in Brüssel mit Sprechchören feierte. Merckx selbst sagt zu den Vergleichen: "Ob Evenepoel mein Nachfolger ist? Er wird vielleicht noch besser als ich. Remco hat alle Qualität, um es zu schaffen." In der Tat war Evenepoels Karrierestart ähnlich stark wie der von Merckx, bei der WM-Premiere hat der 19-Jährige im Vergleich sogar die Nase vorn. Denn Merckx wurde in seinem ersten WM-Rennen bei den Profis 1966 "nur" Zwölfter des Straßenrennens (ein Zeitfahren gab es damals noch nicht).
Vom Linksverteidiger zum Radprofi
Noch erstaunlicher wird die Geschichte des Remco Evenepoel, wenn man seinen sportlichen Werdegang betrachtet. 2000 in einem kleinen Vorort von Brüssel geboren, begann er im als Fünfjähriger mit dem Fußballspielen. Er kickte zunächst für den RSC Anderlecht, später für den PSV Einhoven, meist als linker Verteidiger. Schnell setzte er sich in allen Jugendmannschaften durch, trotz seiner vergleichsweise geringen Körpergröße, und brachte es sogar bis zum Kapitän der belgischen U17-Nationalmannschaft. Schon im Fußball erkannte man seine außergewöhnlichen Werte: "Als er im Alter von elf Jahren für einige Jahre zum PSV ging, sagte mir sein Vater, dass er ein riesiges VO2-Maximum habe (die maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit des Körpers bei Belastung, Anm. d. Red.), erklärte der Nachwuchskoordinator des RSC Anderlecht, Jean Kindermanns, dem belgischen Sportsender "Sporza". Vor allem seine Ausdauer hätte Evenepoel als Fußballer ausgezeichnet. Doch irgendwann sei dem Talent die Entwicklung im Team nicht schnell genug gegangen und Evenpoel habe beschlossen, den Weg seines Vaters Patrick Evenepoel einzuschlagen: Radprofi zu werden.
Sein Einstieg glich dem eines Kometen: Er gewann 34 seiner ersten 44 Rennen. Bei der Junioren-WM in Innsbruck fuhr er seine Gegner trotz eines Sturzes in Grund und Boden. Und bei seiner Triumphfahrt blitzte auch sein Selbstbewusstsein durch: Kurz vor dem Ziel hatte er als Solist in Führung liegend die Zeit, sich ans Kinn zu fassen und mit dem imaginären Ziegenbart zu spielen - ein Jubel, wie ihn zuvor Fußball-Star Cristiano Ronaldo zeigte. Die Botschaft: Ich bin der "Goat", the Greatest of all time. Ganz schön keck für einen Nachwuchssportler, der den Jubel später mit einer Wette mit einem Freund erklärte.
Zum Größten Radsportler aller Zeiten, also zum Range des Eddy Merckx, ist es noch ein weiter Weg. Doch Remco Evenepoel will ihn gehen und zwar auf seine eigene Weise. "Ich mag es nicht, als neuer Merckx bezeichnet zu werden", sagt der 19-Jährige. "Alles ist anders heutzutage und kein Fahrer ist wie ein anderer. Ich bin nicht der neue Merckx, ich bin der neue Evenepoel." Wenn das keine Ansage ist.
Rückblick auf die Tour de France 2019: