Reicht Mexiko Lateinamerikas Linken die Hand?
14. November 2019Wie man medial Mythen schafft, dafür ist die Reise von Evo Morales ins mexikanische Exil ein perfektes Beispiel: Per Twitter und fast in Echtzeit übertrug Boliviens Ex-Präsident ausgewählte Stationen seiner Flucht: Dankesbotschaften an seine Kokabauern-Kumpels für die Treue, Fotos seiner geheimen Schlafstätte im Chapare auf nacktem Betonboden nur mit einer billigen Decke geschützt, dann eines im Jet der Luftwaffe mit einer mexikanischen Flagge auf dem Schoß. Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard fütterte die Presse seinerseits mit pikanten Details über die komplexen diplomatischen Verhandlungen mit den Nachbarstaaten um Zwischenlandungen und Überfluggenehmigungen.
So war Morales' Ankunft am Dienstag auf dem Flughafen von Mexiko-Stadt perfekt vorbereitet - und wirkte nicht wie die Niederlage eines wegen Wahlbetrugs aus dem Amt gejagten Politikers, sondern eher wie die Kampfansage eines Putschopfers. "Vielen Dank an Mexikos Präsidenten. Er hat mir das Leben gerettet", sagte Morales. "Meine Sünde war es, Indigener zu sein und Sozialprogramme für die Armen implementiert zu haben", fuhr er fort. "Ich werde aber nicht von meiner Ideologie abrücken, sondern wir werden den antiimperialistischen Kampf der Völker in Bolivien und auf der Welt fortsetzen." Ebrard sagte dazu nichts, stand aber die ganze Zeit neben dem illustren Gast. Zuvor hatte er die international umstrittene, von Mexiko aber mit verfochtene Putschthese verteidigt.
Proaktive Außenpolitik
Es ist das erste Mal seit dem Amtsantritt von Mexikos linksnationalistischem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador vor einem Jahr, dass Mexikos Außenpolitik proaktiv in eine regionale Krise eingreift. Der Kommentator Angel Verdugo bezeichnete diese Wende im Radiosender "Imagen" als "komische Oper", mit der die Regierung von internen Problemen abzulenken versuche: von der wirtschaftlichen Stagnation und der sich immer schneller drehenden Gewaltspirale. "Das wird aber kaum gelingen, denn die Realität ist stärker", sagte Verdugo.
Für Rafael Rojas, Historiker am Zentrum für Wirtschaftsforschung- und Lehre (CIDE) in Mexiko-Stadt, wird Morales' Präsenz notgedrungen das Augenmerk Mexikos stärker auf Lateinamerika lenken. Rojas geht davon aus, dass das Asyl für Morales auf einer Neuausrichtung der Diplomatie folgt: "Das Asyl und die Bezeichnung der Vorgänge in Bolivien als Putsch sind eine Geste an die lateinamerikanische Linke, die angesichts der guten Beziehungen Mexikos zu US-Präsident Donald Trump ungeduldig wurde."
Es sei allerdings ein Spiel mit dem Feuer, gibt Rafael Archondo zu bedenken. Er war von 2011 bis 2012 Repräsentant Boliviens bei den Vereinten Nationen in New York und lebt heute in Mexiko. "Es gab keinen objektiven Grund für dieses Asyl; das Leben von Morales war in keinem Moment in Gefahr", sagt Archondo und erinnert daran, dass Morales des Wahlbetrugs von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) überführt worden ist: "Für die mexikanische Opposition ist seine Präsenz daher äußerst irritierend." Archondo geht davon aus, dass Morales von Mexiko aus weiter politisch aktiv sein und die Polarisierung in Bolivien anheizen wird. "Das kann sich zu einem großen diplomatischen Problem auswachsen. Ich glaube, Mexiko ist sich dieser Gefahr nicht bewusst."
Vorschnelles Asyl?
Das Hauptproblem sieht Rojas in einer Verstimmung der USA, die mit Abstand Mexikos wichtigster Handels- und Wirtschaftspartner sind. Der Kommentator Raymundo Riva Palacio geht in seiner Kolumne "Estrictamente personal" ebenfalls hart ins Gericht mit der mexikanischen Diplomatie, bezeichnet sie als "improvisiert, wenig fundiert und unprofessionell". Mexiko habe von Putsch gesprochen und Morales vorschnell Asyl angeboten, als dieser noch twitterte, er wolle in Bolivien bleiben, und während andere Staaten Lateinamerikas eine Sondersitzung der OAS beantragten, um eine regionale Position zu konzertieren.
Die Putschthese hält auch Riva Palacios für zweifelhaft. Das Militär habe weder die Macht übernommen noch eine Marionette eingesetzt oder den Ausnahmezustand verhängt. Vielmehr trage Morales einen Teil der Verantwortung: „Mit dem Rücktritt seiner Parteigenossen von allen Schlüsselpositionen im Staat hat er eine Verfassungskrise und ein Machtvakuum geschaffen, das zu Chaos und Anarchie geführt hat." Eine rationale, informierte Analyse der Vorkommnisse in Bolivien habe in Mexiko nicht stattgefunden. „Aber vielleicht war dies auch beabsichtigt", schreibt er. „Der Sturz von Morales ist ein Rückschlag für das autoritäre Projekt, das López Obrador für Mexiko plant."