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Reförmchen statt Revolution

Marc Koch, Santiago de Chile18. November 2013

Viele Kandidaten, weniger Wähler: Bei den Präsidentschaftswahlen in Chile verfehlt Sozialistin Michelle Bachelet die absolute Mehrheit. Ihre ehrgeizigen Pläne zum Umbau des Landes haben einen Dämpfer bekommen.

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Chiles Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet (Foto: REUTERS/Carlos Vera)
Bild: Reuters

Die Revolution ist abgesagt. Kein Systemwechsel. Allenfalls ein paar kleine Veränderungen. Für alles andere ist es den Chilenen dann wohl doch noch zu früh gewesen. Denn sie haben nicht nur die hochfavorisierte Kandidatin der Nueva Mayoría, Michelle Bachelet, in die Stichwahl geschickt. Sie haben auch dafür gesorgt, dass die wahrscheinliche neue Präsidentin keine ausreichende Mehrheit im Kongress hat, um ihre ehrgeizigen Pläne umzusetzen. Für tiefgreifende Reformen, für eine Verfassungsänderung gar, reicht es nicht. Stattdessen muss sich Bachelet Mitte Dezember noch einmal mit Evelyn Matthei, ihrer härtesten Konkurrentin von Chiles alter Rechten messen.

Als haushohe Favoritin gestartet

Dabei hätte alles ganz anders kommen sollen: Nach dem Ende ihrer Amtszeit als erste Präsidentin Chiles verließ Bachelet 2010 das Land und leitete vier Jahre lang die Frauen-Organisation UN Women in New York. Eine erneute Kandidatur der populären Politikerin war nicht möglich, da die chilenische Verfassung zwei Mandate hintereinander verbietet. Bei ihrem zweiten Anlauf versprach die Sozialistin den Chilenen nun eine neue, gerechte und moderne Gesellschaft, in der der mittlerweile beachtliche Reichtum des Landes besser verteilt werden würde, in der alle eine Chance auf kostenlose und qualitätvolle Bildung hätten, in der mit der alten Ungleichheit Schluss sein würde.

Wahlplakate mit Präsidentschaftskandidaten in Santiago (Foto: EPA/FELIPE TRUEBA)
Viele Parteien, wenig Wähler: Nur sechs Millionen Wähler gaben ihre Stimme abBild: picture-alliance/dpa

Das hatten die anderen acht Kandidaten so ähnlich auch versprochen. Doch die gelernte Kinderärztin Bachelet, die an der Humboldt-Universität in Berlin studiert hat, so schien es, konnte das besser vermitteln. Sie hörte zu und erklärte ihre kühnen Visionen: Nicht nur die Bildung, auch das Steuersystem und die Verfassung müssten geändert werden, damit Chile endlich auch gesellschaftlich in der Gegenwart ankommen könne. Alle Umfragen sagten einen Kantersieg in der ersten Runde voraus.

Rechenfehler und Kandidatenrekord

Jetzt rätselt das Land, wieso die Demoskopen so irren konnten. Denn dass die konservative Kandidatin Matthei auf über 25 Prozent der Stimmen kommen würde, hatte niemand auf dem Zettel. Experten glauben, das Ergebnis hänge mit der extrem niedrigen Wahlbeteiligung zusammen. Es waren die ersten Präsidentschaftswahlen in Chile, bei denen es keine Wahlpflicht mehr gab. Die Beteiligung lag bei 56 Prozent.

Präsidentschaftskandidatin Evelyn Matthei bei Stimmabgabe (Foto: HECTOR RETAMAL/AFP/Getty Images)
Gegenspielerin: Die ehemalige Arbeitsministerin Chile Evelyn Matthei holte 25 Prozent der StimmenBild: Hector Retamal/AFP/Getty Images

Das hätten die Meinungsforscher berücksichtigen müssen, kritisiert der Soziologe Eugenio Guzmán vom Institut Libertad y Desarrollo: "Sie haben ihre Berechnungen gemacht, ohne daran zu denken, dass die Leute seit längerer Zeit schon nicht unbedingt sagen, was sie wirklich vorhaben, und dass die Wähler, die nicht besonders politisiert sind, sich verstecken."

Doch nur mit Rechenfehlern ist der Wahlausgang nicht zu erklären. Eine wichtige Rolle spielte die Rekordanzahl der Kandidaten: Neun Frauen und Männer hatten sich um den Platz im Präsidentenpalast La Moneda beworben - die meisten aus dem eher linken Spektrum. Die dritt- und viertplazierten Kandidaten kommen zusammen auf über 20 Prozent der Stimmen - sie dürften auch diejenigen sein, die Michelle Bachelet die absolute Mehrheit gekostet haben.

Verhandlungen statt Hauruck-Verfahren

Studentenproteste in Santiago (Foto: REUTERS/Ivan Alvarado)
Reformbedarf: Noch im Oktober protestierten Studenten gegen teure Schulen und UniversitätenBild: Reuters

Dabei ist die Stichwahl im Dezember aus Bachelets Sicht eher ein kosmetischer Fehler. Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen, während die jetzt noch jubelnden Rechten vermutlich eine Niederlage einfahren werden. Denn Bachelets Bündnis kann sich jetzt auf viele Stimmen aus den Lagern der ausgeschiedenen Kandidaten verlassen. Ihre Gegenspielerin Evelyn Matthei dagegen hat kaum noch etwas zuzusetzen.

Unangenehmer für die Siegerin ist, dass ihr im Parlament und im Senat jeweils ein breite Mehrheit fehlt. Für ihre Reformpläne muss sie jetzt also verhandeln, statt sie im Handstreich durchsetzen zu können - was ihren ungeduldigen Anhängern ganz sicher besser gefallen würde. Dennoch glaubt der Wahlexperte und Analyst René Jofré, dass sie politisch erfolgreich sein kann: "Es sieht gar nicht so schlecht aus. Bachelet wird in beiden Kammern die Mehrheit haben. Und die Zahl der Abgeordneten, die hinter ihr stehen, lässt mich ganz optimistisch in die Zukunft blicken, was die Möglichkeit angeht, ihre Pläne umzusetzen."

Schon am Wahlabend wurde Michelle Bachelet darauf hingewiesen, dass sie für ihre Projekte nicht allzu viel Zeit haben wird: 30 Gymnasiasten hatten das Wahlkampfbüro Bachelets gestürmt und ein paar Stunden lang besetzt. Sie wollten der Kandidatin zeigen, dass sie keine Reförmchen wollen. Sondern eine Revolution.