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Rechtsstaat oder Rache?

14. Januar 2012

Tötung, Exil oder rechtsstaatlicher Prozess? Die arabischen Staaten sind mit ihren gestürzten Diktatoren sehr unterschiedlich umgegangen. Ein Patentrezept für die Vergangenheitsbewältigung gibt es nicht.

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Demonstranten verbrennen Plakat von Ex-Präsident Ben Ali (Foto: dapd)
Tunesiens langjähriger Machthaber Ben Ali setzte sich nach Saudi-Arabien abBild: dapd

Jahrzehnte lang herrschten sie über ihr Land, dann wurden sie von der eigenen Bevölkerung gestürzt: Tunesiens ehemaliger Präsident Zine al Abidine Ben Ali, Ägyptens langjähriger Staatschef Hosni Mubarak, Libyens selbst ernannter Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi und der jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh. Was allerdings danach mit ihnen geschah – darin unterscheiden sich die Geschichten der arabischen Diktatoren gewaltig.

Unterschiedlicher Umgang mit Diktatoren

Ben Ali, der als erster Machthaber von den Protesten des so genannten Arabischen Frühlings überrascht wurde, floh bereits am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien. Dort muss er sich vor einer Strafverfolgung nicht fürchten. Obwohl Mubarak seine Entmachtung kommen sah, entschied er sich dafür, in Ägypten zu bleiben. Inzwischen muss er sich dort vor Gericht verantworten. Gaddafi machte seine Ankündigung wahr und kämpfte bis zum letzten Moment. Er starb kurz nach seiner Gefangennahme in den Händen libyscher Rebellen. Die Umstände seines Todes sind ungeklärt. Um schließlich auch Saleh zu einem Amtsverzicht zu bewegen, wurde dem jemenitischen Präsidenten Immunität gewährt. Er wird sich möglicherweise nie vor Gericht verantworten müssen.

Demonstranten in Kairo (Foto: dapd)
Ägyptens gestürzter Präsident Mubarak muss sich vor Gericht verantwortenBild: dapd

Wie eine Bevölkerung und deren neue politische Führung angemessen mit einem gestürzten Diktator umgeht – darüber wird bereits seit Monaten diskutiert. Ein Patentrezept gibt es nicht, schließlich unterscheiden sich die Gegebenheiten in den einzelnen Ländern voneinander, und über die Beschaffenheit der jeweiligen staatlichen Institutionen gibt es verschiedene Ansichten. Dass die vier arabischen Machthaber gegen die Menschenrechte verstoßen haben, darüber allerdings scheint weitgehend Einigkeit zu herrschen – sowohl innerhalb als auch außerhalb der arabischen Welt. Das beantwortet jedoch nicht die Frage, vor welchem Gericht sich ein ehemaliger Diktator verantworten sollte. Muss die juristische Aufarbeitung durch die Justiz des jeweiligen Landes erfolgen oder vor einem Gericht wie dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag?

Nationales oder internationales Recht?

Demonstranten im Jemen (Foto: dpa)
Viele Jemeniten sind wütend über die Immunität für ihren ehemaligen Präsidenten SalehBild: picture-alliance/dpa

Für Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, steht vor allem eins fest: "In Fällen, wo vorher gravierende Verbrechen begangen wurden, kann auf das Strafrecht nicht verzichtet werden." Ob dabei nationales oder internationales Recht angewendet werden soll, müsse von Fall zu Fall entschieden werden. "Beide Möglichkeiten haben gravierende Probleme, aber auch einige Vorzüge für sich", erklärt Merkel. Diese Vor- und Nachteile müsse man gegeneinander abwägen. "Wenn es keinerlei interne rechtsstaatliche Ressourcen gibt, die ein faires Verfahren gewährleisten, ist eine Überstellung an den Internationalen Gerichtshof die bessere Lösung", sagt Merkel.

Allerdings sei der symbolische Wert eines Strafprozesses in den Augen der Bevölkerung nicht zu unterschätzen, meint der Rechtsphilosoph. Schließlich handele es sich dabei um eine Instanz, die Gerechtigkeit schaffe und Rechtsstaatlichkeit demonstriere. Ein wichtiger Faktor - gerade mit Blick auf die arabischen Länder, die versuchen, sich ein neues Gesicht zu geben. "Das Strafrecht ist der stärkste Ausdruck der Souveränität einer Regierung und eines Staates", erklärt Merkel. "Viele dieser neuen Regierungen wollen ihre Souveränität nach außen dokumentieren."

Rechtsstaatliche Grundlagen, fragwürdiger Prozess

Baschar al-Assad (Foto: picture alliance)
Syriens Staatspräsident Assad klammert sich mit allen Mitteln an die MachtBild: picture-alliance/dpa

Für die neuen Regierungen gebe es allerdings noch ein weiteres Motiv, die Prozesse im eigenen Land durchführen zu wollen: Vergeltung. "Dieses Motiv ist in jeder Hinsicht dubios und schafft keinen Frieden für die Zukunft", betont Merkel. Ein Beispiel dafür ist der Irak. Der gestürzte Diktator Saddam Hussein wurde im eigenen Land vor Gericht gestellt. Das Verfahren hatte zwar rechtsstaatliche Grundlagen, wurde aber auf äußerst fragwürdige Weise abgewickelt. "Man hat bestimmte Befangenheiten nicht ausgeräumt, man hat den Angeklagten in zahlreichen Fällen kein rechtliches Gehör gewährt, und man hat Saddam Hussein direkt nach dem Todesurteil exekutiert, obwohl ihm noch ein letzter Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden hätte", fasst Merkel den Prozess zusammen, der auch von den Nichtregierungsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch kritisiert wurde. Das wirke sich auch negativ auf die Demokratisierung des Landes aus, das von Bürgerkrieg gezeichnet ist, meint der Experte.

André Bank vom GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg hat für das Nachbarland Syrien ähnliche Befürchtungen. Seit zehn Monaten geht das Regime dort gewaltsam gegen Demonstranten vor. Viele Oppositionelle fordern mittlerweile den Tod von Präsident Baschar al-Assad, statt auf ein rechtsstaatliches Verfahren zu drängen. "Immer mehr Protestierende werden der Gewaltanwendung offen gegenüber", sagt Bank. Der Syrien-Experte hält ein Szenario wie in Libyen für wahrscheinlich, falls das Regime stürzen und Assad gefangen genommen werden sollte. Schließlich verleihe die Gesellschaft schon jetzt ihren Rachegefühlen Ausdruck.

Dilemma für westliche Regierungen

Genau das könne für ein demokratisches Syrien ein Problem darstellen, warnt Michael Bothe. "Tötungen wie die Gaddafis sind im Nachhinein immer eine Belastung", sagt der emeritierte Professor für Völkerrecht an der Universität Frankfurt. Um Frieden zu gewährleisten, sei die Aufarbeitung der Vergangenheit unentbehrlich. "Die Aufarbeitung von Unrechtsregimen ist ein wesentlicher Schritt zur Demokratisierung", sagt auch Arndt Sinn, Professor für deutsches und europäisches Straf- und Strafprozessrecht und internationales Strafrecht an der Universität Osnabrück. Dabei müssten aber die Rahmenbedingungen stimmen, betont er: "Ein Prozess muss menschenrechtlichen Standards entsprechen. Erst dann ist eine Gesellschaft auf dem Weg zu einer Demokratie."

André Bank erkennt darin ein Dilemma für westliche und europäische Staaten. Obwohl Präsident Assad möglicherweise für den Tod von vielen tausend Syrern verantwortlich ist und viele Oppositionelle seinen Tod fordern, müssten westliche Regierungen auf ein rechtsstaatliches Verfahren dringen - ohne über diejenigen Syrer, die Assads Tod wollen, von oben herab zu urteilen.

Autorin: Anne Allmeling
Redaktion: Daniel Scheschkewitz / Christian Walz