"Ruf nach Strafrecht letztes Mittel"
13. Juli 2019DW: In Deutschland ist man ab 14 Jahren strafmündig. Seit wann ist das so?
Professor Frieder Dünkel: Seit 1923 mit einer Unterbrechung während der Nazizeit. Die Nationalsozialisten hatten die Altersgrenze auf zwölf Jahre heruntergesetzt, da sind dann ganz üble Geschichte passiert. Seit 1953 mit der Justizreform haben wir wieder die Grenze bei 14 Jahren und das ist eigentlich auch der europäische Standard.
Gibt es auch Länder, wo Kinder und Jugendliche später strafmündig werden?
In Belgien und Polen beginnt die Strafmündigkeit bei 16 Jahren, in den skandinavischen Länder bei 15 Jahren. Für die große Mehrheit in Europa gelten 14 Jahre - in den osteuropäischen Länder, Italien, Spanien und Deutschland. Und dann gibt es einige Länder mit einer früheren Strafmündigkeit, insbesondere die englischsprachigen Länder, wie zum Beispiel Irland. Dort sind die Kinder schon mit zehn Jahren strafmündig, allerdings auch mit gewissen Vorbehalten, was die Sanktionierung anbelangt. Man kann natürlich die Strafmündigkeit relativ früh ansetzen, dann aber die Sanktionierung mit Jugendstrafe oder mit Freiheitsstrafe untersagen. In der Schweiz zum Beispiel kann ein Kind mit zehn Jahren eine erzieherische Maßnahme durch ein Jugendgericht bekommen. Es muss dann gemeinnützige Arbeit verrichten oder an Trainingskursen teilnehmen.
Nach der Vergewaltigung in Mülheim, an der auch zwei Zwölfjährige beteiligt gewesen sein sollen, wird jetzt in Deutschland debattiert, ob man die Strafmündigkeit herabsetzen soll. Wie bewerten sie das?
Wenn man einen Zwölfjährigen ins Jugendgefängnis stecken würde, hätte das fatale Folgen. Diese Gefängnisse sind zu 90 Prozent mit jungen Männern belegt, die älter als 18 Jahre sind, und der Junge wäre dann das ideale Opfer. Das kann man guten Gewissens nicht vertreten. Auch junge Menschen mit 14 oder 15 Jahren sind im Gefängnis die absoluten Underdogs und höchst gefährdet. Da muss man aufpassen, dass diese nicht von den Älteren missbraucht werden.
Wenn man sich also die Resozialisierung auf die Fahnen schreibt, passt das nicht.
Genau. Die Debatte ist ja so schräg, wie sie es vor 20 Jahren auch schon mal war. Es hieß auch damals schon, die Kinderkriminalität steige und die Gewalttäter würden immer jünger. Zehn Jahre später hat man von den angeblichen Gewalttätern nichts mehr gesehen. Kinderkriminalität bedeutet normalerweise Eigentumsdelikte, Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Von daher ist für das Strafrecht da kein Platz. Und der Staat ist ja auch nicht machtlos. Wir haben ein Jugendhilferecht, das zahlreiche Maßnahmen vorsieht bis hin zur Intervention durch den Familienrichter nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Der Richter kann auch eine Einweisung in ein Heim verfügen, gegebenenfalls sogar in ein geschlossenes Heim, was man natürlich zu vermeiden versucht. In ganz Deutschland gibt es ungefähr 300 Plätze, wo die Jugendlichen sicher untergebracht werden und auch nicht fliehen können.
Die Kritik besteht auch darin, dass es nicht genügend Personal in den Jugendämtern geben würde.
Vor einigen Jahren gab es einige Fälle von Vernachlässigung von Kindern, daraufhin hat man eine Fallzahl von 50 Kindern und Jugendlichen pro Sozialarbeiter eingeführt. Aber das ist tatsächlich ein Problem, in einigen Regionen und Hotspots umso mehr. Beim Personal anzusetzen wäre jedenfalls wesentlich einfacher als die Strafmündigkeit zu ändern. Zumal die Konsequenzen im Strafrecht dramatisch und unverhältnismäßig wären. Man versucht es in diesem Alter mehr mit erzieherischen Projekten und Maßnahmen. Davon gibt es natürlich eine Vielzahl. Nicht nur von den Jugendämtern - die Jugendhilfe ist ja überwiegend gemeinnützig und privat organisiert in Vereinen und Projekten. Es gibt zum Beispiel Anti-Gewalt-Trainings. Diese Präventionsarbeit sollte man stärken.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass in dem Mülheimer Fall das Jugendamt an der Haustür eines Zwölfjährigen klingelt, die Familie aber einfach nicht aufmacht.
Das Jugendamt tut sich da sicher schwer, mit etwas rigideren Methoden vorzugehen. Aber natürlich kann man auch eine richterliche Verfügung erwirken. Man kann den Jugendlichen auch in Gewahrsam nehmen. Das steht sogar ausdrücklich im Jugendhilfegesetz drin, dass so ein vorübergehender Gewahrsam für einige Wochen möglich ist. Das Instrumentarium ist also da. Das Jugendamt kann sich nicht dahingehend herausreden, dass es sagt, uns wird nicht die Tür aufgemacht. Dann muss man die nächste Karte ziehen, also den Familienrichter einschalten.
Aber nochmal: die Statistik spricht eigentlich eine andere Sprache. Die Zahlen der Gewalttaten durch Jugendliche und Kinder gehen zurück.
Das sagt auch die Polizei selbst. Aber nicht nur, wenn wir uns die Polizeiliche Kriminalstatistik anschauen, sondern auch bei den Untersuchungen, die das Dunkelfeld beleuchten. Es werden ja viele Taten nicht angezeigt, aber auch da gibt es bei Jugendlichen und Heranwachsenden einen deutlichen Rückgang der Gewalt. Natürlich haben wir in den Medien einen Aufschrei, wenn so eine Tat wie in Mülheim passiert. Das sind aber so seltene Einzelfälle, die auch nicht jeden Tag passieren. Es ist ein Risiko, das man nie ganz vermeiden kann, aber Gott sei Dank nicht unser Alltag. Man sollte von einem kriminalpolitischen Strategiewechsel trotzdem absehen und sich nicht zu irgendwelchen Schnellschüssen verleiten lassen.
Die Debatte wird natürlich noch befeuert, weil es sich bei den fünf Jugendlichen nicht um Deutsche handelt, sondern um Bulgaren.
Ja, aber auch für sie gilt das deutsche Recht. Man muss natürlich schauen, was da bei der Integration schief gelaufen ist, warum sie in Deutschland nicht Fuß gefasst oder ob sie ihre Freiheit missdeutet haben. Das sind alles Spekulationen. Aber trotzdem gibt es keinen Grund, jetzt hysterisch zu reagieren, denn auch bei diesen Delikten sind die Ausländer nicht dramatisch höher beteiligt. Die meisten Straftaten, die von Ausländern begangen werden, sind Diebstähle und sonstiges, Gewalttaten sind die absolute Ausnahme. Im Zusammenhang mit der Diskussion um Strafmündigkeit muss man natürlich auch die Frage nach der Reife des Kindes stellen. Auch einem Zehnjährigen ist zwar in groben Zügen klar, was Recht und was Unrecht ist. Aber danach zu handeln ist wieder etwas anderes. Und es sind ja situative Geschichten, die spontan und wahrscheinlich nicht geplant passieren. In solchen Situationen sind gerade Jugendliche natürlich noch weniger in der Lage, Kontrollmechanismen einzuschalten.
Ihr Fazit lautet also: Ein bisschen mehr Gelassenheit und die Jugendämter müssen ihren Job machen...
...und dann entschieden handeln. Die Integrationsbemühungen also verstärken und das bestehende Recht anwenden. Der Ruf nach dem Strafrecht muss der allerletzte sein. Davor kommt immer das Familienrecht und der Jugendschutz. Das sind die die Stellschrauben, an denen man drehen muss.
Professor Frieder Dünkel ist Strafrechtler und Kriminologe und war Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Universität Greifswald.
Das Gespräch führte Oliver Pieper.