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Raus aus Gaza: Die schwierige Flucht nach Europa

2. Oktober 2023

Täglich verlassen Menschen ihre Heimat Richtung Europa - in der Hoffnung, Konflikte, Verfolgung oder wirtschaftliche Not hinter sich zu lassen. Darunter sind auch junge Leute aus dem Gazastreifen.

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Menschen sitzen am Strand im Gazastreifen
Sehnsucht nach Freiheit: Gaza ist seit über 16 Jahren weitgehend abgeriegeltBild: Tania Kraemer/DW

Die Taschen mit etwas Kleidung, wichtigen Dokumenten, Geld und Handys sind gepackt. Waseem, Wajdi und Momen wollen am nächsten Tag ihre Heimat, den Gazastreifen, verlassen. Doch die jungen Palästinenser haben kein Visum für die Einreise in die Europäische Union. Deshalb nehmen sie einen langen und gefährlichen Weg auf sich: über Ägypten in die Türkei, dann wie viele andere Flüchtende und Migranten über das Mittelmeer Richtung Griechenland. Sie hoffen, irgendwann in Deutschland und Belgien anzukommen.

Jetzt sitzen sie nochmal zusammen, bei Momen zu Hause. Die Freunde stammen aus einem Dorf im Süden des Gazastreifens. "Natürlich ist es mit Risiken verbunden, aber das ist der einzige Weg für eine bessere Zukunft", sagt Wajdi, der den Gazastreifen noch nie verlassen hat. Der 26-Jährige ist noch immer traumatisiert vom 50-tägigen Krieg im Sommer 2014, als das Haus seiner Familie weitgehend zerstört wurde.

Auch Waseem sieht keine Zukunft mehr in Gaza. "Keiner sollte uns fragen, warum wir Gaza verlassen wollen. Es ist einfach unmöglich, hier zu leben", sagt der 26-Jährige, der wie alle anderen anonym bleiben will. "Ich habe studiert, hart gearbeitet von früh bis spät, habe alles versucht, um einen richtigen Job zu finden, aber was haben wir erreicht, außer das wir Kriege und Konflikte erleben?" 

Die drei sind Teil der Generation, die mit mehreren Kriegen und in relativer Isolation aufgewachsen ist. In den vergangenen 15 Jahren gab es mindestens vier Kriege und immer wieder kürzere militärische Auseinandersetzungen zwischen Israel, Hamas und anderen militanten Organisationen. 

Palästina | Israelische Angriffe auf Gaza Stadt
Gaza-Stadt im Mai 2023: Fünf Tag dauerte die erneute EskalationBild: Belal Salem/APA Images/ZUMA Press/picture alliance

Mindestens seit 2007, als die militante Hamas gewaltsam die Macht von der palästinensischen Autonomiebehörde in Gaza übernommen hat, hat Israel den Gazastreifen auch weitgehend abgeriegelt, und kontrolliert strikt die Landes-, Seegrenzen sowie den Luftraum. Auch Ägypten verhängt immer wieder Restriktionen über seine Landesgrenze im Süden des Gazastreifens. Die islamistische Hamas wird von der Europäischen Union, den USA und anderen Staaten als terroristische Organisation eingestuft.

Israel führt Sicherheitsgründe für die starke Einschränkung des Personen- und Warenverkehrs in und aus dem kleinen Gebiet am Mittelmeer an. Gaza und seine rund 2,3 Millionen Einwohner sind somit seit mehr als 16 Jahren weitgehend vom Rest der Welt isoliert.

Viele Beweggründe, die Heimat zu verlassen

Momen geht nochmal die Schritte des Vorhabens mit seinem Freunden durch. Keiner weiß, wo sie in ein paar Wochen sein werden. Momen, Ende 20, verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern, wird von seinen Freunden gerne scherzhaft als Experte bezeichnet. Vor einem Jahr hat er es schon einmal versucht. Damals schaffte er es über die Türkei bis auf eine griechische Insel, wurde aber aufgegriffen und wieder zurückgeschickt. Nun hat er das nötige Geld zusammen, um es nochmal zu versuchen. Er hofft, irgendwann seine Familie nachholen zu können. "Meine Kinder haben immer furchtbare Angst, wenn ein Krieg ausbricht. Warum sollten wir in dieser Situation leben müssen?"

Drei junge Männer gehen eine Straße entlang
Die drei Freunde haben den Glauben an eine Zukunft in Gaza verloren. Sie wollen nach Europa, müssen aber Schmuggler für die Überfahrt über das Mittelmeer bezahlen. Bild: Tania Kraemer/DW

Waseem hat vor sechs Jahren einen Abschluss als Buchhalter gemacht und verzweifelt daran, dass er keinen richtigen Job findet. In Gaza sind derzeit 59,3 Prozent der 15- bis 29-Jährigen arbeitslos, so die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Weltbank. "Ich war unter den fünf Top-Absolventen meines Jahrgangs, und keiner von uns hat je in seinem eigentlichen Job gearbeitet, vorausgesetzt man findet überhaupt Arbeit."

Und um einen Job zu finden, brauche man in Gaza die richtige Parteizugehörigkeit und vor allem "wasta", also Beziehungen, kritisiert Waseem. "Sie [die de-facto-Regierung] nehmen immer mehr Steuern von uns, aber wir bekommen nichts dafür. Es fühlt sich nicht mehr wie mein Zuhause ein." 

Die drei Freunde haben es eilig, den Plan umzusetzen. An ein Schengen-Visum für die Europäische Union zu kommen, ist sehr schwierig. Doch momentan ist es etwas weniger kompliziert, ein Visum für die Türkei zu erhalten. Das bringt sie zumindest etwas näher an Europa. Viele andere Optionen haben sie nicht. Von Israel eine Ausreisegenehmigung für das israelisch besetzte Westjordanland zu erhalten, um dort zu leben und zu arbeiten, ist für die meisten Palästinenser aus Gaza aussichtslos.

Schwierige Reise ins Ungewisse

Insgesamt kostet die One-Way Reise nach Europa je nach Route zwischen 5000 und 12.000 Euro, rechnet Momen vor. Das beinhaltet Visagebühren, Flüge, Transporte und die Menschenschmuggler, die an verschiedenen Punkten bezahlt werden müssen. Was auf dem Papier einfach aussieht, ist mit vielen bürokratischen Hürden verbunden. Schon die Ausreise über den Grenzübergang Rafah benötigt eine Ausreisegenehmigung der ägyptischen Behörden und gilt als kompliziert und langwierig. In der Vergangenheit war auch dieser Übergang oft geschlossen.

Nach dem Flug von Kairo nach Istanbul müssen die drei dann weiter zu verschiedenen türkischen Küstenorten. Ab hier sind sie von Schmugglern abhängig, die die Plätze auf den kleinen Motorbooten verkaufen, um etwa nach Rhodos oder Lesbos zu gelangen. Von dort müssen sie Schmuggler bezahlen, um aufs griechische Festland kommen. Sorge bereitet ihnen vor allem, in Griechenland von der Polizei aufgegriffen oder registriert zu werden. Sie wollen ihren Asylantrag in Deutschland oder Belgien stellen, wo sie Freunde haben, um dort nach EU-Recht auch bleiben zu können.

In Istanbul werden sich ihre Wege trennen. Waseem will eine andere Route nehmen, und setzt recht viel Vertrauen in die Schmuggler. "Je mehr man zahlen kann, desto sicherer ist der Weg," sagt er. Sein Vater gibt ihm für den Versuch sein Erspartes. Die anderen haben Geld von der Familie geliehen, Darlehen aufgenommen oder familieneigenen Besitz verkauft.

Doch die Schulden müssen irgendwann zurückgezahlt werden. "Einige kommen wieder zurück, sie finden entweder keine Arbeit, bekommen keine Aufenthaltsgenehmigung oder sind desillusioniert, weil Europa auch nicht das ist, was sie sich vorgestellt haben," sagt Maha Hussaini von der Nichtregierungs-Organisation Euro-Med Human Rights Monitor in Gaza-Stadt, die sich für den Schutz der Menschenrechte im Nahen Osten und Nordafrika einsetzt.

Das Mittelmeer: Freiheit und Gefahr zugleich

Von ihrem Büro in einem Hochhaus in Gaza-Stadt schaut Hussaini auf das Mittelmeer, das den Gazastreifen vom europäischen Kontinent trennt. In Gaza sehen viele den Strand und das Meer als den einzigen Ort, an dem man "so etwas wie Freiheit empfinden kann". Doch auch dieser Horizont ist endlich: Israel kontrolliert die Seegrenze und palästinensische Fischer können nur einige Seemeilen aufs Meer hinausfahren, in Konfliktzeiten ist der Radius weiter eingeschränkt. 

Palästina Gaza | Baker Abu Tayer
Baker Abu Tayer trauert um seinen toten Sohn - das Boot, auf dem er war, sank im Mittelmeer auf dem Weg zu einer griechischen InselBild: Tania Kraemer/DW

Wie viele Menschen Gaza mit der Absicht verlassen, ohne ein Schengen-Visum nach Europa zu gelangen, ist schwer feststellbar, da sie mit einem Visa für ein Drittland ausreisen. "Vor allem junge Männer, die gerade ihren Uni-Abschluss oder den Abschluss vor einigen Jahren gemacht haben" würden sich auf den Weg machen, sagt Hussaini. "Sie sehen, dass es keinerlei Aussicht gibt für eine [politische] Lösung und dass die ungewisse Situation anhält, sie keinen Job finden und keine Familie gründen können." 

Doch viel zu oft endet die Reise nach Europa auf tragische Weise. Baker Abu Tayer empfängt Gäste in einem karg eingerichteten Wohnzimmer in Khan Yunis, einer Stadt im Süden des Gazastreifens. Sein Sohn Mahmoud ist im März diesen Jahres im Mittelmeer ertrunken. Ein großes Poster, über dem eine palästinensische Keffieh hängt, zeigt einen lachenden jungen Mann. Das Boot mit ihm an Bord sank in der Ägäis. "Nach Mahmoud haben hunderte Menschen diesen Weg genommen und sind an ihrem Ziel angekommen. Er ist bei Gott angekommen. Wir können nichts an dem Schicksal ändern," sagt Abu Tayer mit gebrochener Stimme.

Sein Leichnam konnte geborgen werden und wurde nach Gaza zurückgebracht. "Ich gehe ihn auf den Friedhof besuchen, und lese ihm seine WhatsApp-Nachrichten vor, die er mir geschickt hat," erzählt der Vater. Seinen Sohn hatte er nur mit großer Sorge ziehen lassen. Die Pläne von Mahmouds Bruder, der zu einem späteren Zeitpunkt die gleiche Route nach Europa nehmen wollte, hat die Familie auf Eis gelegt. Sie werden kaum mit dem Tod des einen Sohnes fertig.

Migranten von Rettungsschiff Geo Barents werden auf dem Mittelmeer gerettet
Die Reise über das Mittelmeer ist extrem gefährlich (Symbolbild)Bild: DARRIN ZAMMIT LUPI/REUTERS

Viele Hinterbliebene haben noch nicht einmal diese traurige Gewissheit, da Tote oft nicht geborgen werden können. Seit 2014 gelten mindestens 375 Menschen aus dem Gazastreifen als vermisst oder tot, so die Zahlen von Euro-Med Human Rights Monitor, die Dunkelziffer dürfte wohl höher liegen. Die Organisation hat auch Fälle von schwerer Erpressung dokumentiert. Familien sollten dabei für Informationen über den Verbleib ihrer Angehörigen zahlen, was sich letztlich oft als Betrug herausstellt.

Waseem kannte Mahmoud Abu Tayer. Trotz aller Risiken sind die Freunde mittlerweile aufgebrochen, in eine ungewisse Zukunft. Nach letztem DW-Stand ist Waseem inzwischen in Belgien angekommen. Wajdis Status in der Türkei ist unklar und Momen wartet noch immer auf eine Gelegenheit für eine Fahrt über das Mittelmeer.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin