Gerettet
3. Oktober 2010"Es ist ein Wunder!" staunt eine Touristin, die Quedlinburg schon vor der Wiedervereinigung kannte und nun wieder besucht. Fasziniert schaut sie vom Schlossberg aus über die Stadt, die in der Sonne leuchtet. In den malerischen Gassen mit dem holperigen Kopfsteinpflaster reiht sich ein prachtvolles Fachwerkhaus an das nächste, darüber thronen das Schloss und die berühmte Stiftskirche aus dem 12. Jahrhundert. Hier hielten die Ottonen-Könige Hof, hier ist das Grab des ersten deutschen Königs Heinrich I. "Kein Vergleich zu früher", bemerkt die ältere Dame entzückt. "Der Blick über die Dächer ist jetzt ein Hochgenuss - und damals war es sehr erbärmlich."
Der Abriss war schon geplant
Einheitlich grau und hässlich sei es früher gewesen, erzählen Besucher, die das Städtchen am Rande des Harzes zu DDR-Zeiten kannten. Die Fachwerkhäuser verfielen. Die DDR-Regierung hatte weder Geld noch Baumaterial für eine großflächige Sanierung. "Das war ein ganz trauriges Bild. Wenn der Verfall weitergegangen wäre, dann hätten wir die gesamte Substanz des historischen Stadtkerns verloren", erinnert sich die Quedlinburgerin Christa Rienäcker, die Bücher über die Geschichte ihrer Stadt schreibt.
"Ruinen schaffen ohne Waffen", nennt das Bürgermeister Eberhard Brecht, der im prächtigen Renaissance-Rathaus am Marktplatz sein Büro hat. "Die Altstadt war damals von den DDR-Oberen aufgegeben worden, und es drohte ein Flächenabriss. Man wollte auf die leer gezogenen Flächen Neubauten hinsetzen, aus denen glückliche DDR-Menschen herausschauten."
1989: Rettung für die Altstadt
Doch dazu kann es nicht. Das Wendejahr 1989 brachte die Rettung für die gefährdete Altstadt. "Das war in Quedlinburg bei den ersten Demonstrationen und Versammlungen in der Wendezeit ein ganz wichtiges Thema", erinnert sich Christa Rienäcker. "Die Leute haben sich aufgelehnt und gesagt: Wir müssen sofort diesen Abriss stoppen!"
Nach der Wiedervereinigung wartete eine Mammutaufgabe auf das kleine Städtchen in Sachsen-Anhalt: Die Sanierung der Altstadt und des Schlossbergs mit seinen wichtigen Zeugnissen der deutschen Geschichte. In den vergangenen 20 Jahren wurden 700 Fachwerkhäuser wieder instand gesetzt, viele von Privatleuten.
UNESCO-Weltkulturerbe und Besuchermagnet
Belohnt wurde diese Kraftanstrengung durch ein international anerkanntes Gütesiegel: Die UNESCO erklärte Quedlinburg 1994 zum Weltkulturerbe. "Das ist das höchste touristische Label, das man überhaupt weltweit bekommen kann", sagt Thomas Bracht, Geschäftsführer der Tourismus-Marketing GmbH. "Das ist eine unglaubliche PR-Geschichte für uns, die man nicht bezahlen könnte."
Inzwischen bringt Quedlinburg es auf 1,5 Millionen Tagestouristen im Jahr. Das schafft zwar Arbeitsplätze, spült aber bisher nur wenig Geld in die leeren Stadtkassen. Noch zahlen die Hoteliers und Restaurantbesitzer ihre Kredite ab und daher kaum Steuern. Industrie gibt es kaum, und so hat Bürgermeister Eberhard Brecht "ein ganz ernstes Problem", wie er sagt. Die Sanierung kostet weiterhin Millionen, aber Bund und Land sind nicht mehr so großzügig wie vor 20 Jahren, die westlichen Bundesländer melden ebenfalls Bedarf an. "Dieser Mittelzufluss, der mal in vollem Schwall geflossen ist, tröpfelt nur noch, und die Stadt hat auch das Problem, die Eigenmittel aufzubringen", erklärt Brecht.
Die Stadt Quedlinburg muss einen Eigenanteil von maximal 10 Prozent dazuschießen, wenn Bund und Land Geld für die Sanierung geben - und schon das schafft das Städtchen mit seinen 21.000 Einwohnern kaum. In einem Erker des historischen Rathauses war in früheren Jahrhunderten die Stadtkasse untergebracht. Doch da habe er leider keine Geldvorräte mehr gefunden, seufzt Brecht mit einem Anflug von Galgenhumor.
Jahrhundertaufgabe Sanierung
Und so ist das schöne Erbe zugleich auch ein schwieriges. Bürgermeister Brecht hofft darauf, dass Industriebetriebe sich in Quedlinburg ansiedeln und der Stadt Steuereinnahmen bringen. Tourismus-Fachmann Bracht wünscht sich neue Hotels mit vielen Betten, denn an den Wochenenden reichen die Kapazitäten nicht. Und Christa Rienäcker genießt es, selbst in einem 300 Jahre alten Fachwerkhaus zu wohnen. Sie ist froh, dass ihre Stadt zu neuem Leben erweckt wurde: "Ich freue mich über jedes Haus, das in Ordnung kommt". Schritt für Schritt wird weiter saniert. Zurzeit wird der Schlossberg stabilisiert, der aus weichem, empfindlichem Sandstein besteht. "In einer Stadt wie Quedlinburg mit 1300 Fachwerkhäusern, unzähligen Jugendstilgebäuden, Romanik, Gotik, Historie pur", resümiert Bracht, "da wirst du im Prinzip nie fertig."
Autorin: Nina Werkhäuser
Redaktion: Dеnnis Stutе