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PolitikRumänien

Präsidentenwahl in Rumänien: Rechtsextremer TikTok-Schock

25. November 2024

Calin Georgescu gewinnt völlig unerwartet die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Rumänien. Der parteilose, rechtsextreme und prorussische Außenseiter war fast nur auf TikTok präsent.

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Calin Georgescu in einer blauen Jacke, umringt von Männern und einer Frau, spricht in die Mikrofone, die ihm von allen Seiten entgegengestreckt werden
Überraschungssieger der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in Rumänien: Calin GeorgescuBild: Alexandru Dobre/AP Photo/picture alliance

"Totale Überraschung", "Schock", "Erdbeben", "Ende mit Herzinfarkt" - das waren in der Nacht von Sonntag auf Montag in rumänischen Fernsehstudios nur einige der entsetzten Ausrufe, die fassungslosen Kommentatoren über die Lippen kamen, als die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl nach und nach aktualisiert wurden. Denn: Ein von Politik und klassischen Medien nahezu unbeachteter Rechtsextremer und christlich-orthodoxer Fundamentalist, der den russischen Staatschef Wladimir Putin ebenso bewundert wie die rumänischen Legionärs-Faschisten der Zwischenkriegszeit, hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Rumänien gewonnen - von niemandem vorhergesehen.

Calin Georgescu, Jahrgang 1962, von Beruf Agraringenieur, parteilos, aber seit einigen Jahren in der rechtsextremen Szene Rumäniens aktiv, erhielt in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am Sonntag (24.11.2024) rund 23 Prozent der Stimmen. In den Umfragen vor der Wahl hatte er lange Zeit kaum eine Rolle gespielt und hatte zuletzt überwiegend vier bis sieben Prozent erreicht. Er hatte keinen echten Wahlkampf betrieben, keine Partei oder Organisation hinter sich und war in der traditionellen medialen Öffentlichkeit kaum präsent.

Stattdessen machte er in den vergangenen Wochen vor allem mit Videos auf der Plattform TikTok von sich reden, die hunderttausendfach verbreitet wurden.

In einem regelrechten Wahlkrimi um den zweiten Platz kam die Kandidatin Elena Lasconi von der liberal-progressiven Reformpartei Union Rettet Rumänien (USR) mit nur rund 2000 Stimmen Vorsprung auf 19,17 Prozent.

Marcel Ciolacu zieht den blauen Vorhang der Wahlkabine zu.
Der rumänische Ministerpräsident Marcel Ciolacu am Wahltag - er galt als einer der Favoriten bei der PräsidentschaftswahlBild: Octav Ganea/Inquam Photos via REUTERS

Der in Umfragen als Favorit gehandelte Marcel Ciolacu, der gegenwärtig Premierminister und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (PSD) ist, erreichte 19,15 Prozent. Damit haben die wendekommunistischen Sozialdemokraten, die Rumäniens politische Landschaft seit dem Sturz der Diktatur dominieren und schon seit langem faktisch eher rechtspopulistisch ausgerichtet sind, erstmals keinen Kandidaten in einer Stichwahl um das Präsidentenamt.

Als Viertplazierter erreichte George Simion, der Präsident der rechtsextremen Partei Allianz für die Vereinigung Rumäniens (AUR) rund 14 Prozent. Der Kandidat der Nationalliberalen, der Ex-Premier Nicolae Ciuca, stürzte mit knapp neun Prozent regelrecht ab. Insgesamt lagen die Umfragen bis auf die Werte für einige wenig bedeutende Kandidaten praktisch durchgehend daneben.

"Invasion Rumäniens hat begonnen"

Rumänische Kommentatoren zeigten sich in der Wahlnacht bestürzt. Der Bukarester Politologe Cristian Pirvulescu sagte im Fernsehsender Digi24, das Wahlergebnis zeige die große Kluft zwischen der politischen Klasse Rumäniens und der rumänischen Gesellschaft, denn ein Drittel der Wählerinnen und Wähler habe für "Anti-System-Kandidaten" gestimmt. Es sei ein "schwerwiegender Moment für Rumänien" und ein "großes Alarmsignal". Rumänien sei "kurz davor, in den Abgrund zu stürzen".

Der Verfassungsexperte Ioan Stanomir sprach seinerseits von einer "Spirale des unvorhersehbaren Protestes", wenn die traditionelle Politik durch "Inkompetenz und Mittelmäßigkeit" den Außenseitern das Feld überlasse. "Die Verlierer der Globalisierung haben sich gerächt", so Stanomir. Der für seine pointierten Formulierungen bekannte Publizist Cristian Tudor Popescu schrieb am Sonntag abend (24.11.2024) auf Facebook: "Heute Abend hat die Invasion Rumäniens durch Russland begonnen."

Plädoyer für Austritt aus EU und NATO

Das ist bei Weitem nicht so abwegig, wie es klingt, wenn man sich die politische Karriere und die Äußerungen Calin Georgescus anschaut. Der 62-Jährige arbeitete lange Zeit im Staatsapparat Rumäniens, unter anderem im Umwelt- und im Außenministerium. Vor gut einem Jahrzehnt trat er in der Öffentlichkeit verstärkt mit Publikationen und Äußerungen in Erscheinung, in denen er christlich-orthodox-fundamentalistische, rechtsextreme, antiwestliche und prorussische Ansichten und Verschwörungstheorien verbreitete.

George Simion schaut zu, wie seine Frau lächelnd einen Wahlzettel in die Wahlurne wirft.
George Simion, Kandidat der extremen Rechten, hat es nicht in die Stichwahl geschafftBild: Andreea Campeanu/REUTERS

Zeitweise war er in der rechtsextremen Partei AUR aktiv, überwarf sich jedoch mit deren Vorsitzendem George Simion, der ursprünglich als Favorit für die jetzige Stichwahl um das Präsidentenamt gehandelt wurde. Gegen Georgescu wird seit 2022 strafrechtlich ermittelt, weil er die profaschistische, christlich-orthodoxe und antisemitische Legionärsbewegung der Zwischenkriegszeit verherrlichte und den rumänischen Diktator und Hitler-Verbündeten Ion Antonescu als Helden bezeichnete. Im Zusammenhang mit Russland und seinem Krieg gegen die Ukraine sagt Georgescu, dass "Putin sein Land liebe", dass die USA den Krieg in der Ukraine lange geplant und provoziert hätten und die "russische Weisheit Rumäniens Chance" sei. Georgescu plädiert für einen Austritt Rumäniens aus der Europäischen Union und der NATO.

Gute Chancen für gemäßigte Kandidatin

In seinen TikTok-Clips wiederholte Georgescu Parolen wie diese: "Das Schlimmste ist nicht, dass Rumänien Boden, Wald und Industrie verloren hat. Das, was Rumänien am meisten fehlt, ist der Kult der Ehre und Würde." Das erinnert an den Diskurs der Legionäre aus der Zwischenkriegszeit. In der gestrigen Wahlnacht wandte sich Georgescu mit einer kurzen christlich-fundamentalistisch-nationalistischen Botschaft an seine Wähler: Am "30. Sonntag nach Ostern" habe das rumänische Volk in einem "Schrei des Leidens" nach "Frieden gerufen". Das rumänische Volk erlebe die "Wiedergeburt des Mutes, Rumäne zu sein", es habe dafür gestimmt, "nicht mehr auf die Knie gezwungen, überfallen, bedrängt und gedemütigt" zu werden.

Was halten die Rumänen von dem Überraschungssieger?

Ob Georgescu jedoch die zweite Runde der Präsidentschaftswahl in 14 Tagen gewinnt, ist unsicher - sein Diskurs ist für eine Mehrheit der Rumänen bei Weitem zu extrem, und möglicherweise haben viele Wähler in der ersten Runde lediglich aus Protest und in Unkenntnis vieler seiner Ansichten für ihn gestimmt.

Die zweitplazierte Kandidatin, Elena Lasconi, Vorsitzende der Partei Union Rettet Rumänien und Bürgermeisterin einer südrumänischen Kleinstadt, dürfte laut Beobachtern für viele Wähler die Favoritin sein, da sie einerseits gemäßigte politische Ansichten links und rechts der Mitte vertritt, anderseits mit ihrer Partei USR aber auch für eine Abgrenzung von der verrufenen, abgenutzten politischen Klasse Rumäniens steht, die in den vergangenen Jahrzehnten von den Sozialdemokraten und Nationalliberalen dominiert wurde.

Erste TikTok-Wahl der Welt

Die USR entstand vor rund einem Jahrzehnt als progressiv-liberale Protestpartei gegen Korruption, Filz und mangelnde Staatsreformen in Rumänien. Lasconi dürfte nun versuchen, sich in ganz und gar ungeplanter Weise in Anlehnung an den Parteinamen als "Retterin Rumäniens" vor einem politischen Abenteurer zu präsentieren, der das Land ins Chaos stürzen würde.

Elena Lasconi spricht in Mikrofone von Journalisten, die ihr entgegengehalten werden. Um sie herum stehen Männer und Frauen, zum Teil Journalisten
Elena Lasconi von der Partei USR ging als Zweite aus der ersten Runde der Präsidentschasftwahl hervorBild: Andreea Campeanu/REUTERS

Auch wenn die Chancen dafür gut stehen, so wird Rumänien den historischen Wahlschock vom Sonntag wohl noch lange analysieren. Denn so wie das Land vor 35 Jahren während des Sturzes der Ceausescu-Diktatur im Fernsehen die erste "Tele-Revolution" der Welt erlebte, könnte man nun von der ersten "TikTok-Wahl" der Welt sprechen. Noch ist unklar, wie die hunderttausendfache Verbreitung von Georgescus TikTok-Videos in den vergangenen Wochen zustande kam und wer dafür zahlte.

Hybrider Krieg verloren

Der Journalist Florin Negrutiu sagte dazu im Fernsehsender Digi24, das müsse aufgeklärt werden. Fest stehe, dass das Wahlergebnis eine "schlimme Kombination aus mehreren Faktoren" sei: "ein Mann, der ein messianischer Führer und eine Putin-Konserve ist, die Algorithmen der sozialen Medien und die Bot-Fabriken".

Mit großer Spannung wird nun in Rumänien erst einmal die Parlamentswahl vom kommenden Sonntag (1.12.2024) erwartet, für die angesichts der Ergebnisse aus der ersten Runde derzeit niemand gültige Prognosen anzustellen wagt. Für den Publizisten Ion M. Ionita ist eines aber schon jetzt klar: "Die traditionelle Politik ist in Rumänien praktisch hinweggefegt worden. Wir sind das erste Land, in dem der hybride Krieg, der in den sozialen Medien entfacht wurde, verloren gegangen ist."

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille und blonden Locken
Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter