Proteste an US-Unis rufen Erinnerungen wach
11. Mai 2024In seinem Hit "What's going on?" beschrieb Soul-Legende Marvin Gaye 1971 eine Zeit bürgerlicher Unruhen, ausgelöst durch Krieg, Rassismus und politische Desillusionierung. Vor allem Studierende und andere junge Menschen forderten weitgreifende Veränderungen.
Würde er noch leben, fände Gaye vermutlich zahlreiche Gründe, das Lied noch einmal zu schreiben. Wieder verwandeln junge Menschen in den USA ihre Universitäten in Bühnen, um die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was manche als "live aufs Handy gestreamten Völkermord" bezeichnen, und auf einen demokratischen Präsidenten, der das alles voll und ganz unterstütze. So beschreibt es Leigh Raiford, Professorin für Afroamerikanische Studien an der University of California Berkeley: "Es gibt eine ganze Generation von Menschen, die nicht für die Demokratische Partei stimmen werden, nicht für Joe Biden", sagt sie zur DW. Für einige Wähler werde der Umgang Israels mit den Palästinensern bei den Präsidentschaftswahlen im November eine wichtige Rolle spielen.
Vor vier Jahren sah das ganz anders aus. Damals trug Biden gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump auch deshalb den Sieg davon, weil er die jungen Menschen auf seine Seite zog, die landesweit an von der Bewegung Black Lives Matter inspirierten Protesten teilnahmen, die sich vor allem gegen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner richtet. Die Auslöser für die Unruhen im Wahljahr damals waren andere als heute, aber wieder steht die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit im Raum.
Meinungsforscher und Wahlkampfstrategen sind sich uneins, welche Folgen das für das Wahlergebnis in diesem Jahr haben wird. Biden versucht gleichermaßen deutlich zu machen, dass er einerseits Israel uneingeschränkt militärisch unterstützt und andererseits das Leiden der Zivilbevölkerung minimieren will. In den vergangenen Wochen hat er sich vehementer für eine Waffenruhe eingesetzt.
Keine bedingungslose Unterstützung Israels
An Dutzenden Universitäten in den USA wurden "Camps gegen den Völkermord" errichtet. Teilnehmende fordern ein Ende der seit sieben Monaten andauernden Bombardierung Gazas durch israelische Streitkräfte. Die Militäraktion Israels begann nach dem beispiellosen Terrorangriff am 7. Oktober 2023, als die militant-islamistische Hamas in Israel mehr als 1200 Menschen ermordete und rund 240 in den Gazastreifen verschleppte. Die Hamas wird von Israel, den Vereinigten Staaten, den Mitgliedern der Europäischen Union sowie einigen arabischen Staaten als Terrororganisation eingestuft.
Laut den Vereinten Nationen, die sich auf Zahlen der von der Hamas geführten Gesundheitsbehörde in Gaza berufen, wurden seither fast 35.000 Menschen in Gaza getötet. Dabei handle es sich bei nahezu der Hälfte der Getöteten um Kinder. Viele Hilfsorganisationen vermuten, dass die Zahl der Opfer zu niedrig angesetzt ist.
Die USA sind Israels größter Lieferant tödlicher Militärhilfen. Und bei allen Unterschieden ist dies ein Punkt, der die Demonstranten vereint: Sie wollen, dass die US-Regierung ihr - in Bidens Worten "unverbrüchliches" - Bekenntnis zu Israel widerruft. Der Präsident betont, dass die Proteste nichts an seiner Haltung ändern würden. Doch in dieser Woche setzte seine Regierung nach Informationen der US-amerikanischen Nachrichtenplattform Axios die Lieferung von Munition an Israel aus. Warum es zu dieser Entscheidung kam, ist nicht klar, doch es ist die erste dieser Art während der aktuellen Eskalationsphase des Nahost-Konflikts.
Außerdem fordern die Studierenden von ihren Universitäten, sich von Finanzbeteiligungen an der Waffenindustrie und an Unternehmen mit Bezug zu Israel zu trennen. Einige der Universitäten verfügen über milliardenschwere Stiftungen, deren Vermögen zu großen Teilen aus Unternehmensanteilen bestehen.
Es stehen Abschlussprüfungen und Abschlussfeiern an. Und wohlhabende Spender wie auch Politiker, die allergisch auf Kritik gegen Israel reagieren, setzen die Universitäten unter Druck. Mit Verweis auf die Gefährdung der Sicherheit und der Campus-Regeln haben sich einige Universitäten an die Polizei gewandt, um die Protestcamps räumen zu lassen. Landesweit wurden an Universitäten mindestens 2000 Menschen festgenommen.
Zahlreichen Berichten zufolge soll die Polizei zum Beispiel an Universitäten in Georgia, Texas und in New York City bei den Räumungen übermäßige Gewalt angewendet haben. An der University of California Los Angeles hingegen wurde die Polizei dafür kritisiert, nicht genug getan zu haben, als vergangene Woche maskierte pro-israelische Gegendemonstranten das Palästina-Camp dort angriffen. Auf den sozialen Medien kursierten Videos, in denen Demonstrierende "Wo wart ihr gestern?" skandierten, als die Polizei anrückte, um das Camp nach dem Angriff aufzulösen.
Lange Tradition der Diskreditierung
"Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie Colleges und Universitäten pro-palästinensische Äußerungen von Studenten unterdrücken", kritisiert Amr Shabaik in einer Stellungnahme, in der er die Eskalation verurteilt. Shabaik ist juristischer Vorstand der Sektion Los Angeles des Council on American-Islamic Relations, einer Bürgerrechtsorganisation, die sich für die Rechte von Muslimen in Nordamerika einsetzt.
Unterstützer Israels verweisen auf die Menschen, die während des Terrorangriffs am 7. Oktober von der Hamas getötet wurden. Sie kritisieren, dass jüdische Studenten belästigt und bedroht werden. Sie haben Indizien vorgelegt, die auf eine mögliche Verbindung zwischen den Protestgruppierungen und ausländischen Organisationen wie der Hamas hindeuten sollen.
Viele Juden haben ihre Solidarität mit den Protesten zum Ausdruck gebracht, sich Protestcamps angeschlossen und Teilnehmer während des Pessach-Fests im vergangenen Monat zur zeremoniellen Mahlzeit am Sederabend eingeladen.
Dieses differenzierte Bild von Gegnern und Unterstützern macht die Antwort der Universitäten nur noch komplizierter.
Am 30. April nahm die Polizei von New York zum Beispiel an der Columbia University und am City College of New York (CCNY) 282 Personen fest. 71 davon standen mit der Universität in Verbindung. Im Gegensatz zur Columbia University ist das CCNY ein öffentliches College, es haben also auch Personen Zugang, die nicht der Hochschule angehören.
"Diese Vorwürfe der 'Agitation von außen' sind wirklich gefährlich und sie sind wirklich unredlich", sagt Raiford, die sich derzeit als Fellow an der American Academy in Berlin befindet. Sie verweist auf eine lange Tradition der Diskreditierung von Aktivisten in den USA, die bis zum Anfang des vergangenen Jahrhunderts zurückreiche. Angebliche oder tatsächliche Kommunisten, die Anhänger der Bürgerrechtsbewegungen und der Anti-Kriegs-Bewegung in den 60ern und 70ern - ihnen allen sei von Gegnern vorgeworfen worden, sie würden unter sowjetischem oder kommunistischem Einfluss von außen stehen. Im Rückblick habe sich dann herausgestellt, meint Raiford, dass sich diese Bewegungen auf der "richtigen Seite der Geschichte" befunden hätten.
"Auch Martin Luther wurde von ihnen als 'fremdgesteuerter Agitator' bezeichnet", sagt sie über die Befürworter der Rassentrennung, die nicht bereit waren, gleiche Rechte für alle US-Amerikaner zu akzeptieren.
Vorwürfe gibt es auch von der anderen Seite. So haben das US-Monatsmagazin "The Monthly" und der katarische Nachrichtensender "Al-Dschasira" berichtet, dass pro-israelische Gruppen in den USA und der Staat Israel ihre Bemühungen koordiniert hätten, um pro-palästinensische Stimmen insbesondere an den Universitäten zu unterdrücken.
Redefreiheit oder öffentliche Ordnung?
Die Universitäten sind zwischen die Fronten geraten. Verfassungsrechtlich ist die Redefreiheit in den USA noch stärker geschützt als in vielen anderen Demokratien. Aber auch Sicherheit und Zugang zu Bildung sind garantierte Rechte.
Bei aller ihrer rechtlichen Verpflichtung, "Diskriminierung zu bekämpfen und die Verantwortung, die Ordnung aufrechtzuerhalten", schreibt Anthony Romero, Geschäftsführer der American Civil Liberties Union in einem offenen Brief an Universitätsrektoren, "ist es doch unerlässlich, dass Sie die Prinzipien der akademischen Freiheit und der Redefreiheit, die den Kern des Erziehungsauftrags Ihrer respektierten Institution bilden, nicht opfern".
Die Mission, Studierenden soziale und moralische Ideale zu vermitteln, damit sie "hinaus in die Welt gehen und sie verändern", sagt Berkeley-Professorin Raiford, stehe in Konflikt mit dem höheren Bildungssystem der USA, das in vielen Fällen vor allem dazu diene, die Macht der herrschenden Klasse zu konsolidieren.
Wichtige Institutionen wie Columbia und die University of Chicago, die gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, profitieren davon, dass ihre Studentenschaft in dem Ruf steht, Teil der sozialen und politischen Veränderung zu sein. So sehr sie zum jeweiligen Zeitpunkt auch als Bösewichte dastehen mögen, werden sie rückblickend doch gewürdigt. Als Polizisten in Schutzanzügen vergangene Woche in die Hamilton Hall der Columbia University vordrangen, entbehrte das nicht einer gewissen Ironie. Genau 56 Jahre zuvor hatten sie das schon einmal getan, während der Anti-Kriegs- und Bürgerrechtsproteste von 1968.
Aus der Geschichte lernen
"Wir durchleben eine Zeit, in der die Spaltung ebenso groß ist wie damals", sagt Gregory Payne, Leiter der Kommunikationsstudien am Emerson College in Boston. "Wie 1970 haben wir auch heute ein Versagen der Führung von der Spitze bis zur Basis." Sein College zählt zwar zu den kleinsten in der Region Boston, doch die Protestaktionen dort zählten zu den größten in der Stadt. Ende April nahm die Polizei dort mehr als 100 Personen im Umfeld des Universitätscampus fest und löste ein Camp auf, das Behörden zufolge auf öffentlichem Grund errichtet worden war und gegen die Stadtverordnung verstieß.
Die Situation könnte sich in den USA weiter verschärfen, denn Biden und die Gouverneure der Bundesstaaten stehen unter Druck, die Nationalgarde gegen die Demonstranten einzusetzen.
Das wäre eine historische Parallele mehr. Im Mai 1970 eröffneten Truppen der Nationalgarde Ohio während eines Anti-Kriegs-Protests an der Kent State University das Feuer. Vier Studierende starben, weitere neun wurden verletzt. Es blieb nicht die einzige tödliche Begegnung zwischen Demonstranten und Behörden, doch diese hat sich besonders in die Erinnerung vieler Amerikaner eingebrannt. Payne hat viele Jahre seiner Karriere damit verbracht, zu diesem Thema zu lehren: "Was wichtig ist und was wir jetzt brauchen, so wie wir es damals brauchten, was wir jeden Tag brauchen - ist der Dialog."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.