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ESC auf der Zielgeraden

Matthias Klaus25. Mai 2012

Die einen können singen, die anderen tanzen. Und ob sie nun eine Wollmütze oder fast nichts tragen, gewinnen wollen sie alle. 26 Kandidaten sind nach den Halbfinalen noch im Rennen um das beste Lied Europas.

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Veranstaltungshalle des ESC (Foto: Ulf Mauder)
Bild: picture-alliance/dpa

Sicher ist eins: Europa möchte in diesem Jahr keine krummen Rhythmen, kein Heavy Metal und kein prolligen Party HipHop: Österreich, die Slowakei und Montenegro sind rausgeflogen, bevor es zum Finale am Samstag kommt. Kein gutes Jahr für Rockmusik beim ESC, denn auch das Schweizer Duo Sinplus, das mit seinem Titel "Unbreakable" im Wettbewerb so etwas wie Indie Rock machte, durfte schon am Mittwoch die Heimreise antreten.

Auch für den deutschen Ralph Siegel, dem Mann, der zum 20. Mal einen ESC-Beitrag komponiert hat und der in diesem Jahr für San Marino antrat, hieß es am Dienstagabend: Ende der Veranstaltung.

Richtiggehend froh sein konnte man, dass der niederländische Country-Song der Sängerin Joan Franka "You And Me" im zweiten Halbfinale rausgewählt wurde. Zum eher lächerlichen Federschmuck kam noch eine Gesangsdarbietung, die ihr gut und gerne den Titel "schlechteste ESC-Sängerin" einbringen könnte.

Techno und Soul hoch im Kurs

Ganz anders stehen die Italiener da. Seit sie im letzten Jahr mit einem Jazzmusiker Platz zwei holen konnten, sind sie wohl mutig geworden und liefern erneut einen Song ab, der alles andere als Schlagerseeligkeit verkörpert. Nina Zilli und ihr "L' Amore è Femmina" klingt zwar an manchen Stellen verdächtig nach Amy Winehouse, hat aber mit seinem Memphis Soul Bläsern und Sixties-Gitarren durchaus Retro-Charme und wird von den Buchmachern hoch gehandelt.

Wenn man denen glaubt, scheint der ESC Sieger 2012 allerdings ohnehin festzustehen. Schweden, das Land, das mit Abba und ihrem Evergreen "Waterloo" den erfolgreichsten Eurovision-Song aller Zeiten lieferte, könnte in diesem Jahr erneut gewinnen. Loreen, die 28-jährige Sängerin mit marokkanischen Wurzeln und wilder Mähne hat mit "Euphoria" einen wirklichen Ohrwurm abgeliefert, der gleichzeitig ziemlich modern und mystisch daherkommt. Euro-Trance-Techno mit einer hymnischen Melodie, zu der die Club-Gänger dieser Welt gerne die Hände in die Luft heben werden. Für Roman Lob, unseren Star für Baku, bleibt laut Wettbüros bestenfalls ein Platz im vorderen Mittelfeld. Aber, um Stefan Raab, Jury-Mitglied der deutschen Fernsehshow "Unser Star für Baku", zu zitieren: "Der Fisch ist noch nicht gelutscht."

Publikum kontra Jury?

Abgestimmt wird beim ESC einmal vom Publikum, das per Telefon oder SMS sein Votum abgibt, und zur anderen Hälfte von einer Fachjury, die aus Musikern und Musikexperten besteht. Es heißt, das Publikum wähle immer das Grelle, Bunte und die Fach-Jury die musikalische Qualität. Ob das stimmt, bleibt allerdings geheim. Die Ergebnisse werden addiert. Als einer der Kritiker-Lieblinge gilt die 25-jährige Kosovo-Albanerin Rona Nishliu aus Pristina.

Mit ihrem Klagelied "Suus" legte sie im ersten Halbfinale eine vor allem gesanglich beeindruckende Performance hin. Sie ist wahrscheinlich die beste Sängerin im ganzen Wettbewerb, doch tanzen kann man zu ihrem Lied nicht, und es gibt auch keine Melodie, die sich in den Gehörgängen festsetzt. Dafür sticht sie mit ihren Dreadlocks, die sie sich in Schlangenform um den Hals drapiert hat und einem leuchtend blauen Umhang optisch aus der Masse der Popdancer hervor.

Das krasse Gegenteil lieferten die Buranovskie Babushki aus Russland. Die rissen Publikum und Presse gleichermaßen mit, als sie ihren volkstümlichen Kracher "Party for Everybody" zum Besten gaben. Die Performance der traditionell gewandeten Omas mit Plätzchenbacken auf der Bühne verbreitete gute Laune, doch so weit ist es von da bis zum 70er Jahre Grand Prix-Titel "Dsching-Dsching-Dschingiskhan" nicht mehr.

Vielleicht lag es an der geographischen Nähe zu Aserbaidschan, vielleicht auch daran, dass das Publikum kurz vor Ende des zweiten Halbfinales genug hatte von post-jugoslawischen Balladen und 120-BPM-Einheits-Euro-Disco. Aber Can Bonomo aus der Türkei konnte mit "Love Me Back" ähnliche Begeisterungsstürme beim Hallenpublikum auslösen wie im ersten Halbfinale die Russen-Omas. Im Pressezentrum wurde zu dem traditionellen Türk-Pop-Song Polonaise getanzt.

Can Bonomo aus der Türkei. (Foto: Berfu Merve Bolulu)
Es fetzt aus der Türkei mit Can BonomoBild: Berfu Merve Bolulu
Buranovskiye Babushki aus Russland. (Foto: RTR)
Und die lieben Plätzchen backenden Omis aus RusslandBild: RTR
Rona Nishliu aus Albanien. (Foto: Fadil Berisha)
Völlig untypisch ist das Lied der Albanerin Rona NishliuBild: Fadil Berisha
Loreen aus Sweden. (Foto: Carl-Johan Söder)
Viele tippen auf Schweden und LoreenBild: Carl-Johan Söder
Nina Zilli. (Foto: Toni Thorimbert)
Retrosoul auf Italienisch: Nina ZilliBild: Toni Thorimbert

Gesangswettbewerb mit Bauchgrummeln

So offen sich die aserbaidschanische Regierung derzeit auch gibt, so ganz bleibt der ESC nicht von politischen Implikationen verschont. Regelrechte Zensur bei der Berichterstattung ist nicht festzustellen, doch sobald sich ein Künstler auch nur dezent politisch äußert, rufen die Autoritäten zur Ordnung. Die schwedische Sängerin Loreen traf sich mit Menschenrechtsaktivisten, und sofort gab es eine offizielle Beschwerde von Regierungsstellen bei der EBU, die Künstler mögen sich aus der Politik heraushalten.

Proteste in Baku (Foto: dpa)
Polizeieinsatz bei Protesten in BakuBild: picture alliance / dpa

Die EBU, Veranstalter des ESC, ist hier auch sehr vorsichtig. Als Loreen bei einer Pressekonferenz auf ihr Treffen angesprochen wurde, bügelte der Moderator die Frage mit der Bemerkung ab, man möge doch mit solchen Themen die schöne Stimmung nicht verderben. Dass die Staatsschützer allgegenwärtig sind, fällt auch im Kleinen auf. So durfte im Euroclub, der offiziellen Party Location des ESC, keine Musik aus Armenien gespielt werden, und gerüchteweise heißt es, die Einspielfilme während der Show, die eigentlich von der Kölner Firma Brainpool produziert worden waren, seien wenige Stunden vor dem Halbfinale durch staatstragendere russische ersetzt worden.

Außerdem kann einem angesichts der ungeheuren Polizeipräsenz und der weiträumigen Absperrungen des Veranstaltungsgeländes durchaus manchmal ein wenig mulmig werden. Die Regierung scheint nervös zu sein, und man kann nur hoffen, dass es am Samstag beim Finale nicht zu Zusammenstößen kommt.