Pro und Contra: EU-Verfassung
27. Mai 20051. Vorwurf: "Die Europäische Verfassung ist neoliberal und antisozial."
Das ist einer der am weitesten verbreiteten Vorwürfe und wird vor allem von Globalisierungskritikern und Gewerkschaften vorgebracht. Mit der Europäischen Verfassung erhalte der Neoliberalismus Verfassungsrang, kritisiert das globalisierungskritische Netzwerk ATTAC. Der im EU-Vertrag verankerte "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" sei gefährlich. Sabine Leidig, die Bundesgeschäftsführerin von ATTAC Deutschland, bescheinigt der Verfassung "eine klare Tendenz zu einer liberalen Wirtschaftsordnung."
Im Verfassungstext seien beispielsweise die Stabilitätskriterien festgeschrieben. "Solche Ausführungsbestimmungen gehören nicht in eine allgemeine Verfassung", sagt sie. "Aber wenn sie schon mal drin stehen, warum gibt es dann keine Ausführungsbestimmungen für die Sozialcharta", fragt Leidig. Während die wirtschaftspolitischen Leitlinien ausdifferenziert im Verfassungstext stehen, "scheinen die sozialen Rechte dagegen reine Lyrik zu sein", so Leidig.
Tatsächlich bleibt die Umsetzung sozialer Bestimmungen den Mitgliedstaaten überlassen - weil die Nationalstaaten in diesem Bereich keine Kompetenzen abtreten wollen.
2. Vorwurf: "Die Europäische Verfassung ist kriegstreiberisch"
ATTAC und verschiedene Friedensorganisationen mahnen eine "Militarisierung der Europäischen Union" an. Aufrüstung werde zum Verfassungsgebot, heißt es in einem Protestscheiben im Internet ("Nein, zu diesem Verfassungsvertrag!" www.eu-verfassung.org). Denn die Mitgliedstaaten "verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. I-41 Abs. 3 EUV). Elmar Brok, als Abgeordneter für die konservative Europäische Volkspartei im Europäischen Parlaments, teilt den Militarismus-Vorwurf nicht. "Die in Europa geteilten Werte ziehen sich durch die ganze Verfassung, einschließlich der Verteidigungspolitik", sagt Elmar Brok in einem Interview mit unserem Medienpartner Europa-Digital.
Brok verweist auf den Artikel. I-3 EUV, der die Werte für das Außenhandeln der EU bestimmt. Die Europäische Union will mit ihrer Außenpolitik die Einhaltung der Charta der Vereinten Nationen wahren, heißt es dort. Auch in dem Kapitel "Die Union und ihre Nachbarn" ist das Friedensprinzip verankert, denn die EU-Politik zeichne sich durch "enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit" aus (VIII Art. I-57).
Das Friedensgebot reicht Verfassungsgegner wie ATTAC nicht. Sie kritisieren grundsätzlich, dass die Möglichkeit zu militärischen Interventionen besteht. Elmar Brok hingegen beschwichtigt. Schon die Reihenfolge der Nennung des Instrumentariums zur Lösung politischer Konflikte beweise, dass zivile Mittel stets Vorrang vor militärischen hätten (Art. I-3 und Art. I-41).
Außerdem seien europäische Militäraktionen der nationalen Kontrolle unterstellt, da sie dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen, sagt der EU-Parlamentarier. Das Entsenden von Truppen bleibe national bestimmt. "Also bewegt sich weiterhin kein deutscher Soldat ohne Bundestagsmandat", so Brok.
3. Vorwurf: "Die Europäische Verfassung ist undemokratisch."
Kritiker beklagen, die EU-Verfassung sei undemokratisch, da sie nationale Kompetenzen auf die Europäische Union übertrage, ohne die Rechte des Europäischen Parlaments anzupassen. Der Verfassungsentwurf räumt dem Europäischen Parlament immer noch kein Initiativrecht bei Gesetzesvorhaben ein. So besitzt hier die Europäische Kommission, die nicht direkt demokratisch legitimiert ist, das Monopol.
"Solche Standards an Demokratie gibt es in keinem Mitgliedsstaat, und wir schaffen sie jetzt in Brüssel", sagt der Verfassungskritiker Gerd Müller von der CSU in einem Interview mit tagesschau.de. Müller hat im Bundestag gegen die Verfassung gestimmt.
Befürworter halten dem Demokratiedefizit-Vorwurf entgegen, dass das Europäische Parlament bei rund 80 Prozent der EU-Gesetzgebung ein Veto-Recht besitzt. Die Europäische "Volksvertretung" würde durch die EU-Verfassung gestärkt. Dadurch werde Europa demokratischer.
Demokratischer, aber nicht demokratisch. Die einen vermissen das Ideal, die anderen loben den Fortschritt. Eine Verfassung, die eine soziale und demokratische Schieflage ermöglicht, ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht, sagen die Gegner. Europa ist ein Prozess der "kleinen Schritte", entgegnen die Befürworter.
Ja oder Nein?
Sabine Leidig von ATTAC Deutschland fordert eine Debatte in der Zivilgesellschaft - ohne Tabus. Auch ein "Nein!" könne Europa helfen, sich weiterzuentwickeln, behauptet sie. Davon geht Europa nicht unter, sagen die Kritiker der Verfassung.
Verfassungsbefürworter warnen vor einem "Nein". Das Integrationsprojekt könne um viele Jahre zurückgeworfen werden. Europa verliere an Glaubwürdigkeit, wenn ein Land, wie Frankreich, das zusammen mit Deutschland der "Motor der Europäischen Einigung" ist, gegen die Verfassung stimme.