Poetische Bilderwelten: Elger Esser
9. Juli 2012Einen größeren Gegensatz zwischen der Kunst Elger Essers und der Lage seines Düsseldorfer Ateliers ist wohl kaum denkbar. Schräg gegenüber ein Schlecker-Markt, wenige Meter weiter eine Filiale der Lebensmittelkette Norma. In den Hinterhöfen neben Essers Atelier tummeln sich Kfz-Werkstätten, Billig-Bäckereien, Copy-Shops. Deutsche Vorstadttristesse. Esser arbeitet in großzügigen Räumen in einem Büroatelier in der Nähe des Düsseldorfer Hafens, dunkelbraunes Stäbchenparkett dominiert die Arbeitsräume und hohe Bücherregale. Eigene Fotografien hängen hier nur wenige an den Wänden, die sind in einem Lager untergebracht. Irgendwie passt dieser Gegensatz auch zu all dem, was Esser erzählt über seine Arbeit, seine Bilder, seine Reisen und Lektüren. Die Arbeitsräume nutzt der Künstler in erster Linie zur Vor- und Nachbereitung der Fotografien. Die entstehen im Freien.
Die Kunst des Elger Esser, das sind große Formate, aufgenommen vor allem in der französischen Provinz. Es dürfte keinen anderen deutschen Fotografen geben, der das Nachbarland in den letzen Jahren mit seiner Kamerar derart häufig aufgenommen, ja geradezu kartografiert hat. Der gebürtige Stuttgarter arbeitet an einer Art "Erinnerungsatlas" Frankreichs. Dabei hilft ihm auch seine Sammlung mit historischen, oft kolorierten Postkarten aus der Jahrhundertwende. Rund 25.000 davon hat er in seinem Atelier. Der legendäre französische Fotopionier Gustave Le Gray ist eine weitere Inspirationsquelle.
Immer wieder Wassermotive
Die Motive der Bilder Essers sind dabei nicht einmal spektakulär. Flüsse, Marschlandschaften, einfache Höfe und Dörfer in der Provinz, auch Stadtlandschaften, Blicke aufs Meer, immer wieder Wasser. Auf den großformatigen Aufnahmen ist oft nicht viel zu sehen, es dominiert Leere, die Endlosigkeit von Himmel und Meer. Horizonte bestimmen das Zentrum der Bilder, zwei große Flächen, dazwischen oft ein dünner Strich Landschaft, Felsen, Steine. Das Besondere sind die Farben. Gelb- und Brauntöne bestimmen die meisten Fotos, monochrome Sepiatöne, wie man sie aus den Anfangstagen der Fotografie kennt, tauchen alles in eine unwirkliche Atmosphäre. Essers Arbeiten wirken bei aller Intensität und Schärfe entrückt, melancholisch, poetisch.
Elger Esser ist einer der bekanntesten Fotokünstler Deutschlands. Er wird weltweit von renommierten Galerien vertreten. Auf dem Kunstmarkt erzielen die Fotos hohe fünfstellige Erlöse. Seine Arbeiten hängen in berühmten Museen in New York, Paris oder Amsterdam. Esser ist Meisterschüler der Kunstakademie Düsseldorf, studierte beim berühmten Bernd Becher. Die "Düsseldorfer Schule" (die auch maßgeblich von Hilla Becher geprägt wurde) hat Fotografen wie Andreas Gursky, Candida Höfer oder Thomas Struth hervorgebracht, deren Bilder auf dem Kunstmarkt schon einmal Weltrekorde brechen.
Essers Ideenwelten: Literatur und 19. Jahrhundert
Doch Essers Bilder unterscheiden sich fundamental von denen der berühmten Kollegen. Sieht man bei Andreas Gursky und seinen Düsseldorfer Kollegen Menschenmassen und Stadtlandschaften, Gebäude, Räume und Häuser, die globale Moderne eben, so sind es bei Esser Landschaften oder Objekte, die es schon seit vielen Jahren oder gar Jahrhunderten gibt. Essers Bilder atmen Geschichte. Das 19. Jahrhundert, die Literatur - das sind seine Referenzpunkte. Damit hat sich Esser von der strengen Konzeption und Motivwahl der Bechers abgewandt. Als "Häretiker" der Becher-Schule bezeichnete ihn deshalb einmal der Verleger und Sammler Lothar Schirmer.
Esser sieht sich auch als Handwerker alten Stils. In seinem Düsseldorfer Labor kann man ihn noch mit hochgekrempelten Armen antreffen, die Finger in Entwickler und Fixierflüssigkeit getaucht. Die digitalen Arbeitsmethoden vieler seiner Kollegen sind ihm fremd. Dabei ist die Nachbearbeitung seiner Bilder ein wichtiger Bestandteil im Schaffensprozess. Esser nutzt immer wieder alte Techniken, etwa das fotomechanische heute fast ausgestorbene Druckverfahren der Heliogravüre, das eine ungeheure Schärfe und Tiefe erlaubt.
Differenziertes Verhältnis zur Moderne
Der Sohn eines deutschen Schriftstellers und einer französischen Pressefotografin wuchs in Rom auf: "Ich bin mit deutschem Geistesgut groß geworden, aber doch mit einer gewissen italienischen und französischen Seele", erzählt Esser. Auch deswegen hat er wohl einen anderen Blick auf die Welt gewonnen. "Wenn man als Kind in einer Stadt wie Rom aufwächst, wo einem überall 3000 Jahren Geschichte begegnen, erlebt man 'Zeit' ganz anders". Überrascht sei er damals gewesen, als er in das Land seines Vaters kam, irritiert auch vom Verhältnis der Deutschen zur Moderne. Die Moderne sei als Allheilmittel angesehen worden. Nicht nur in der Kunst, auch in der Architektur. Bei all den Verletzungen, die zwei Kriege dem Land zugefügt hätten, sei das zwar verständlich gewesen, hätte aber nach 1945 viel Schaden angerichtet. Er selbst habe die Moderne immer als sehr gebrochen angesehen. Esser räumt ein, dass er sich mit diesem kritischen Blick auf die Moderne nicht nur Freunde gemacht hat.
Dieser Blick auf Geschichte, auf Kunst und Kultur, hat Essers Arbeiten geprägt. Auch sein Leben: "Deutschland ist mir ein sehr liebes Land, ich schätze Deutschland sehr. Ob ich es liebe, weiß ich aber nicht", betont er. Er lebe in Deutschland, "auch um sich die Sehnsucht nach dem Anderen zu erhalten." Zu diesem Anderen wurde Frankreich, das Land seiner Mutter. Etwa fünf- bis sechsmal im Jahr reist Esser nach Frankreich und fotografiert dort. Er will irgendwann einmal Frankreich fotografisch komplett vermessen. In jedem Department will er fotografieren: "Landschaften sind wie Seelenzustände", sagt Esser und, "jeder von uns trägt eine Landschaft in sich, die er natürlich auch idealisiert."
Blicke in die Vergangenheit
Wenn man seine meisterlich komponierten Bilder betrachtet, weiß man, was er damit meint. Es sind Blicke in die Vergangenheit, die Erinnerungen freisetzen, Gefühle von Kindheit, von Vergangenheit, idealisierte Bewusstseinszustände. Esser ist ein Romantiker, der sich auch vom Begriff der Schönheit in der Kunst nicht distanziert: "Ich kann nicht umhin, Schönheit zu generieren. Wenn man etwas Zeitloses schaffen will, etwas, das der Zeit enthoben ist, muss man sich Dinge suchen, die Bestand haben." Viele Leute hätten mit Schönheit ein Problem: "In dem Augenblick, wo sie etwas sehen, was schön ist, werden sie mit ihrem eigenen grauen Alltag konfrontiert. Das können sie nicht ertragen." Dass Schönheit auch etwas Unerträgliches habe, könne er gut nachvollziehen: Aber dem muss man sich stellen."
Natürlich fallen einem beim Betrachten der Bilder Schlagwörter wie Romantik und Melancholie ein. Doch nichts wäre falscher zu vermuten, hier betreibe einer einen romantischen Schönheitskult. "Die Romantik war eine Bewegung, die an ganz elementare Dinge gerüttelt hat, eine Bewegung des Aufruhrs", sagt Esser. Man kann sich stundenlang mit ihm über Literatur unterhalten, französische vor allem, Proust und Maupassant, Fabre oder Flaubert, aber auch Thomas Mann. Proust vor allem hat ihn immer wieder inspiriert, "Combray (Giverny)" heißt die jüngste Serie von Bildern, die zurzeit in einem Bonner Museum zu sehen ist, die er im berühmten Seerosengarten Monets aufgenommen hat. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", Proust Jahrhundertroman, wäre wohl der passende Oberbegriff für das Werk Elger Essers.
Variationen auf Courbets Welle
Essers jüngste Fotoserie entstand auf hoher See. Vier Wochen war der Fotograf im Frühjahr auf einem Forschungsschiff, auf dem Geologen im Golf von Cadiz Schlammvulkane untersuchten, unterwegs. Der Gast aus Deutschland machte in diesen vier Wochen rund 25.000 Aufnahmen vom Meer, von Wellen. Ein großer Teil dieser Bilder fließt nun ein in ein fotografisches Mosaik, das, zusammengesetzt, Gustave Courbets berühmtes Gemälde "Die Welle" variiert. Im Düsseldorfer Atelier des Künstlers wächst diese "Welle" derzeit zusammen. Mehrere Assistenten helfen dabei. Im Oldenburger Schloss wird Essers Werk im Juli ausgestellt.
Auch bei dieser Arbeit gilt: Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte, die Beschäftigung mit den Elementen, das Meer, das eigentliche Urelement, aus dem wir alle kommen. Elger Esser rührt mit seinen Bildern an den großen Fragen der Menschheit: Woher kommen wir? Was bedeutet Zeit? Er erforscht diese Fragen mit seinem ganz eigenen Blick. Aber auch derjenige, der vorher nicht Proust gelesen hat und Courbets Gemälde nicht kennt, kann etwas mit Essers Kunst anfangen. "Wenn ich einen Beipackzettel lesen muss, um die Kunst zu verstehen, dann stimmt irgendetwas mit der Kunst nicht", sagt Elger Esser.