Wenn sich Snowboarder in der Luft verirren
4. Februar 2022Snowboard-Star Shaun White kann jetzt nachempfinden, wie sich seine Landsfrau, die mehrfache Turn-Olympiasiegerin Simone Biles fühlte, als sie in der Luft die Orientierung verlor. "Ich hatte noch nie von den Twisties gehört, weil das nicht mein Sport ist", sagt White der DW. "Aber ich denke, es kam dem, was sie beschrieb, sehr nahe.
"Twisties" nennt man im Turnen das Phänomen, das Superstar Biles bei den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio so sehr verunsicherte, dass sie auf viele ihrer eigentlich dort geplanten Wettkämpfe verzichtete. Die Orientierungslosigkeit, die White im Januar während des US Grand Prix in Mammoth Mountain in Kalifornien in der Halfpipe erlebte, erinnerte ihn an Biles Erfahrung.
White: "Ein Alptraum-Wettbewerb"
Der legendäre Snowboarder, der in Peking zum fünften Mal bei Olympischen Winterspielen startet, hatte sich gerade erst von einer Corona-Infektion erholt. Obwohl negativ getestet, war White bei der Veranstaltung in Kalifornien noch nicht wieder ganz der Alte. "Ich habe einfach versucht, mich bei den Flips in der Luft an den Lichtern zu orientieren und hatte dabei wirklich eine harte Zeit. Im Qualifikationslauf verletzte ich mich am Knöchel, also beschloss ich, ihn zu schonen", sagt der 35-Jährige. "Es war ein Alptraum-Wettbewerb."
In einer Sportart, in der die Athleten mehrere Meter hoch springen, sich dabei teilweise gleichzeitig um beide Körperachsen drehen und auf verdichtetem Schnee oder vereisten Halfpipe-Wänden landen, kann die mentale Fitness nicht nur den Unterschied ausmachen, sie trägt auch zur Sicherheit der Sportler bei.
"Immer pushen"
Es gehört zum Freestyle-Snowboarden dazu, in den Funparks oder der Halfpipe an die eigene Grenze zu gehen oder sogar darüber hinaus. Der damit verbundene Nervenkitzel hat zur Popularität von Wettbewerben wie den X-Games entscheidend beigetragen und dazu geführt, dass Sponsoren Millionensummen in den Snowboardsport investieren. Doch den Mut für immer spektakulärere Sprüngen aufzubringen, ist nicht leicht. "Im Grunde habe ich jedes Mal Angst, wenn ich bei einem Wettkampf starte", sagt Marcus Kleveland der DW. "Das Niveau des Snowboardens ist im Moment einfach unglaublich hoch."
Der Slopestyle- und Big-Air-Spezialist aus Norwegen, einer der Stars der Szene, gibt in Peking sein Olympiadebüt. Bei den Winter X-Games 2017 in Aspen im US-Bundesstaat Colorado war Kleveland der erste Snowboarder, der im Wettkampf einen "Quad Cork 1800" sturzfrei zeigte, einen Vierfach-Salto mit fünf Drehungen. "Wir müssen uns pushen, um die verrücktesten Sachen zu machen", sagt der 22-Jährige. "Das macht verdammt Angst."
Jeder Sprung kann schiefgehen
Eine gute Orientierung in der Luft ist entscheidend für die Snowboarder, wenn sie ihre Tricksprünge ausführen. Immer wieder haben sie diese im Training geübt, zunächst auf Anlagen, in denen sie am Ende der Sprünge in einer Schaumstoffgrube landen. Doch selbst wenn sie ihre Tricks acht oder neun Meter über dem Boden im Grunde perfekt beherrschen, kann immer noch etwas schief gehen.
"Manchmal gehen dir auch Tricks daneben, die du eigentlich schon drauf hattest", sagt die Österreicherin Anna Gasser, ebenfalls eine Slopestyle- und Big-Air-Spezialistin, der DW. "Ich glaube, das Beängstigendste, was beim Snowboarden passieren kann, ist, wenn du in der Luft die Orientierung verlierst."
Deshalb, so die 30-Jährige, habe sie gut verstehen können, dass sich US-Turnstar Simon Biles in Tokio der mentalen Gesundheit wegen von ihren Wettkämpfen zurückzog. Gasser, die bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang Gold im Big-Air-Wettbewerb gewann, erwartet jedoch nicht, dass sich Ähnliches bei den Olympischen Wettbewerben im Genting Snowpark in Zhangjiakou ereignen wird. "Ich glaube, wenn man seine Tricks jetzt im Griff hat und sich mental gut fühlt, wird man auch in Peking kein Problem haben", sagt Gasser.
Visualisierung und Musik
Zwischen den Durchgängen sieht man häufig Snowboarderinnen und Snowboarder, die mit geschlossenen Augen ihre Sprünge durchgehen, dabei hüpfen und sich drehen. Sie beginne schon am Vorabend der Wettkämpfe mit dieser Visualisierung, sagt Gasser: "Beim Slopestyle kann so viel passieren, dass ich sogar über Worst-Case-Szenarien nachdenke, darüber, wie ich meinen Lauf im Notfall beenden kann."
Marcus Kleveland bereitet sich anders vor. "Ich gehe einfach mit klarem Kopf in einen Wettbewerb und konzentriere mich auf den vor mir liegenden Lauf. Dazu hören ich gute Musik, um mich auf Touren zu bringen", sagt der Norweger, den man bei Wettkämpfen häufig mit Kopfhörern sieht. Und wie geht er mit dem Risiko um, bei einem seiner spektakulären Sprünge in der Luft die Orientierung zu verlieren? "Wir machen das schon ziemlich lange und wissen, was wir tun", antwortet Kleveland. "Aber ja, wir können uns da oben manchmal verirren."
Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.