Politisches Theater
10. Dezember 2013Zehntausende sterben auf ihrem Weg nach Europa. Eine humanitäre Tragödie und eine große Herausforderung für das Demokratie-Verständnis der Europäischen Union, die droht, zu einer Art Festung zu werden. Das Hamburger Schauspielhaus hat sich nun eingeschaltet in diese Diskussion mit der Inszenierung "Nach Europa" der Regisseurin Friederike Heller. Es ist die Bühnenfassung des preisgekrönten Romans "Drei starke Frauen" der Französin Marie NDiaye - die Geschichte von Khady Demba, die nach einer langen Odyssee durch Afrika versucht, nach Europa zu gelangen.
Aufforderung zum Weiterdenken
Hellers Inszenierung ist reduziert. Ein paar Plastikschalenstühle. Eine raumhohe Wand, die für die Festung Europa steht. Die Konzentration liegt auf dem Dialog zwischen Kadhy, die von ihrer Familie verstoßen wurde und alleine nach Norden wandert, und den Schleppern und Zuhältern, bei denen sie sich verdingen muss, um voranzukommen. Ein quälender, erbarmungswürdiger Weg. "Die literarische Qualität und die Komplexität der Sprache von Marie NDiaye sind schwer auf der Bühne umzusetzen", sagt Heller. "Ich hatte Bedenken, dass das Schicksal der Khady Demba den Zuschauer in Rührung entlässt, der dann das vermeintlich Richtige gefühlt hat und vielleicht auch drei, vier Nächte besser schläft deswegen. Aber das war nicht mein Ziel. Ich wollte, dass man den Leuten eine Aufforderung zum Weiterdenken an die Hand gibt."
Um Khadys Geschichte mit der Welt der Zuschauer in Hamburg zu verknüpfen, montiert Heller Imagefilme der Frontex-Grenzschutzpatrouille in die Inszenierung. Die EU-Agentur sichert Europas Außengrenzen. Die Filme zeigen harte Kerle mit Spiegelglas-Sonnenbrillen, die zu treibender Musik auf Schnellbooten durchs Mittelmeer brettern, um diese EU-Grenzen zu schützen vor der Einfuhr illegaler Güter wie gestohlener Laster oder Migranten. "Man tut ja dann schnell so, als seien die Leute von Frontex die Bösen", erklärt Heller, "aber Frontex ist legitimiert durch unseren politischen Willen". "Nach Europa" geht unter die Haut und macht klar, dass wir als EU-Bürger selbst in der Verantwortung stehen.
Ein Leben in der Warteschleife vor Europa
Das erlebte auch die Filmemacherin Miriam Faßbender in der spanischen Grenzstadt Melilla. Dort traf sie auf Flüchtlinge, die es nicht geschafft haben, den Grenzzaun zu überwinden. Die ihr erzählten, dass Grenzer auf sie geschossen haben. Für Faßbender ein prägender Augenblick und der Entschluss, den Dokumentarfilm "Fremd" zu machen. Drei Jahre lang filmte sie einen der vielen zehntausend Flüchtlinge: Mohammed aus Mali. Er wollte eigentlich nie nach Europa, erzählt sie, muss aber als ältester Sohn seine Familie finanzieren nach dem Tod des Vaters. Von Mali wanderte er nach Algerien, nach Mauretanien, Marokko. Der Versuch, nach Europa zu gelangen, war für ihn vor allem eines: Warten. Auf den richtigen Schlepper. Auf Jobs, um das Geld für die Schlepper zu verdienen. Faßbender zeigt seinen zermürbenden Alltag zwischen Flucht und Stillstand - ein Leben in der Warteschleife vor Europa, in der sich zuletzt auch die Flüchtlinge gegenseitig bekriegen. "Je näher sie dran sind an Europa, desto dramatischer wird die Situation für die Flüchtlinge", erzählt die Regisseurin. "Sie sind nahe am Ziel und es ist eigentlich nur noch die Meerenge von Gibraltar, die sie trennt, oder nur noch die Überfahrt auf die Kanaren. Aber es ist die schwerste Strecke und natürlich sind sie Konkurrenten. Jeder will es schaffen und denkt sich: Wenn erʹs schafft, schaffe ich es nicht."
Dass viele Boote auf dem Weg nach Europa kentern, ist Mohammed bewusst. "Werde ich auf dem Wasser sterben?", fragt er in die Kamera und erzählt, dass wegen der hohen emotionalen Belastung viele auf dieser Reise den Verstand verlieren. "Fremd" gibt dem in den Nachrichten oft nur namenlosen Flüchtlingsstrom ein Gesicht. Mohammeds illegale Einreise scheitert, er landet in Abschiebehaft und wird zurückgeschickt. "Aber er ist nie wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt, weil es ihm vor seiner Familie unangenehm ist, dass er es nicht nach Europa geschafft hat", so Faßbender.
Theater und Film als politischer Kommentar
Auch Khady Demba landet am Grenzzaun von Melilla. Starke Bilder hat Regisseurin Friederike Heller für diese Szene gefunden. Die Wand öffnet sich: Schwarze Vögel sind dahinter zu ahnen, surreale Bilder, die wie im Roman eine zweite, eine archaische Ebene zeigen. Khady Demba erlebt das aber nicht mehr. Beim Versuch, den Zaun zu überwinden, stirbt sie. Hier in Hamburg ist ihr Leben ein tragischer Stoff für die Bühne, aber Schicksale wie ihres gibt es zehntausendfach in der Realität. Das eint diese beiden Arbeiten: Sie brechen durch ein Einzelschicksal beim Publikum den Mechanismus der Verdrängung auf. "Ich habe mich an meine Großmutter erinnert, die tatsächlich dieses ʹWir haben es nicht gewusstʹ im Mund geführt hat. Die Situation des Holocaust und des Grenzzauns lässt sich natürlich nicht vergleichen", erklärt Heller. "Aber der psychologische Mechanismus in der Gesellschaft, diese Dinge zu verdrängen, ist durchaus vergleichbar."
Millionen Flüchtlinge sollen es sein, die nach Europa wollen. Wie sollen Europas Bürger sich verhalten? Die Asylpolitik verändern? Die EU-Außenpolitik hat schon reagiert: Im Oktober lancierte sie das Programm Eurosur zur "Überwachung problematischer Menschenströme", so die offizielle Bezeichnung - und schottet die EU-Grenzen nun auch durch Drohnen und Satelliten ab.
In den Künsten geht die kritische Diskussion weiter: Als nächstes Theaterstück hat am 13. Dezember Hans-Werner Kroesingers "FRONTex SECURITY" am Berliner Theater Hebbel am Ufer Premiere. Und Miriam Faßbender veröffentlicht die Geschichte von Mohammed im kommenden Frühjahr als Buch im Westend-Verlag.