Industrie 4.0 für Ostdeutschland
28. August 2015Die Zukunft der Industrie ist in Schönebeck gut versteckt. Denn wer zum Werk des Automobilzulieferbetriebs ThyssenKrupp will, dessen Auto schlängelt sich zunächst durch die engen, verwinkelten Gassen einer 30.000-Einwohner-Stadt, bevor wie aus dem Nichts weiß-getünchte Fabrikhallen in den Himmel ragen.
Dass ausgerechnet hier in der beschaulichen Provinz Sachsen-Anhalts die Fabrik der Zukunft stehen könnte, liegt nicht auf der Hand. Und doch ist die Fertigung für Auto-Lenksysteme hier inzwischen so digital vernetzt, dass der Standort Schönebeck zur Speerspitze einer neuen Industriewelt in den neuen Bundesländern zählt. Ein Grund für Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), den Hersteller für Fahrzeuglenkungen von VW, BMW und Mercedes auf seiner jüngsten Sommerreise zu besuchen. "Gerade die Automobilindustrie und ihre Zulieferer haben erkannt, dass sich durch die immer stärkere Vernetzung Wertschöpfungsprozesse verändern, sich neue Lieferbeziehungen auftun und neue Geschäftsmodelle entstehen können", sagt Gabriel.
Wenn das Werkstück die Fabrik steuert
"Industrie 4.0" nennen das Experten und meinen damit, dass sich die Produktionsanlagen der Zukunft durch die Auswertung riesiger Datenmengen (Big Data) selbst steuern und sogar teilweise selbst optimieren können. Servergestützte Cloud-Anwendungen spielen dabei eine entscheidende Rolle. So ist das Werk in Schönebeck mit zwei weiteren Standorten weltweit vernetzt, um in Echtzeit rund 200 Messdaten zwischen den Werken austauschen zu können.
Eine Spezialsoftware sortiert und analysiert den Datenberg. Das ermöglicht Rückschlüsse darauf, wie die Produktion effizienter werden kann. "Auf Basis dieser Informationen wollen wir Vorhersagemodelle schaffen, mit deren Hilfe wir auf mögliche Fehlerquellen hingewiesen werden", erläutert Patrick Vith, Chef des Lenksysteme-Geschäfts bei ThyssenKrupp. Das Unternehmen liegt dabei im Trend: Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums haben rund 40 Prozent der deutschen Industrieunternehmen seit Anfang 2013 in die Digitalisierung ihrer Produktion investiert. Insbesondere auch in den neuen Bundesländern.
Für die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder, Staatssekretärin Iris Gleicke, zeigt ein Blick auf das Werk in Schönebeck: "Auch die neuen Bundesländer können Vorreiter sein". Gerade bei der Einführung neuer Technologien habe der Standort Ostdeutschland sogar Vorteile gegenüber dem Westen, weil hier nach 1990 in einer nachholenden Industrialisierung besonders viel neue Technik und neue Ausrüstung angeschafft worden sei. "Gleichwohl ist es so, dass die ostdeutsche Wirtschaft sehr viel kleinteiliger ist und das führt dazu, dass sehr häufig nicht die Investitionen getätigt werden, die gebraucht würden", sagt Gleicke.
Wie navigieren die Service-Roboter der Zukunft?
In Jena in Thüringen wollen Forscher der Fraunhofer-Gesellschaft genau dies ändern. Mehr Innovation in die digitalisierte Produktion ist hier ein Schwerpunkt - und das soll die Kosten für Investitionen senken. Hier lernen jene Roboter, die die Fabrik der Zukunft steuern sollen, derzeit am Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik (IOF) sprechen, sehen und laufen.
Professor Oksana Arnold von der Fachhochschule in Erfurt ist die Trainerin der Mikrochip-gesteuerten Industriemitarbeiter. Zur Demonstration führt sie einen kleinen, 30-Zentimeter großen Roboter an der Hand über eine Tischplatte. Der Roboter-Prototyp, der in Zusammenarbeit mit dem Jenaer Fraunhofer-Institut entstanden ist, steht breitbeinig auf weißen Plastikgliedern neben ihr, sein blauer Computer-Kopf schillert und seine Kullerraugen begeistern auch jene Zuschauer, die sich sonst weniger für künstliche Intelligenz interessieren.
Die Professorin rückt einen Schritt an den Roboter-Knirps heran, der bekommt davon durch eingebaute Sensoren Wind. "Nimm mich bitte an die Hand", sagt die sprechende Maschine. Dann stakst das Gerät, geführt von der Hand der Professorin im großen Halbkreis über den Tisch.
Ziel ist es, dass der Roboter Hör- und Seheindrücke in Millisekunden verarbeiten kann, um so künftig gezielt andere Objekte steuern zu können. Die Professorin hält einen kleinen, roten Ball nach oben. Binnen Sekunden hört sie von der Computer-Stimme: "Ich habe den Ball gefunden". Experiment geglückt, auch wenn die intelligente Maschine unmittelbar danach das Gleichgewicht verliert und stürzt. Ein Zeichen für weiteren Forschungsbedarf, schmunzelt Arnold: "Wir brauchen noch eine bessere Sensorik, ebenso wie eine intelligentere Verarbeitung und wir müssen auch die Nutzung der natürlichen Kommunikationsmöglichkeiten noch verbessern."
Besonders heikel: Mit welchem Leitsystem soll der Roboter sich autonom durch die Fabrik der Zukunft bewegen? Aktuell verwenden die Forscher einen QR-Code als Marker auf Objekten, die der Roboter erkennt. Doch vielleicht reichen künftig auch virtuelle Reize, um den Roboter zu steuern, oder Lichtsignale, die Aktionen der Roboter auslösen können. Noch fehlt es weltweit an verbindlichen Standards für die Navigation von Maschinen mit künstlicher Intelligenz, was auch rechtliche Fragen nach sich zieht: Wie sicher ist die Technik, die später hochsensible Produktionsprozesse überwachen und kontrollieren könnte?
Wirtschaft 4.0 am Horizont
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel sieht auch die Politik in der Pflicht, um nicht nur in Ostdeutschland die Digitalisierung der Industrie voranzutreiben. Noch ringen die Vereinigten Staaten und Europa darum, wessen technische Standards die Leitlinien für die digitalen Industrieprozesse bestimmen. Gelingt im transatlantischen Handelsabkommen TTIP hier eine Übereinkunft, so Gabriel, könnte dies für die Betriebe Rechtsicherheit und neue Marktchancen bedeuten.
Mehrere Expertengremien mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, zusammengefasst in der "Plattforum Industrie 4.0", sollen dazu Empfehlungen für Standards erarbeiten. Schon im November will das Bundeswirtschaftsministerium dann 100 Anwendungsbeispiele vorstellen, wie vor allem kleine und mittelständische Betriebe in vernetzte Systeme investieren können. Gut möglich, dass die beschaulich und gut versteckte Fabrikhalle in Schönebeck dann öfter Besuch bekommt. Auch von weiter Ferne.