Kosovo: Opfer sexueller Gewalt brechen ihr Schweigen
5. Dezember 2018Als ein serbischer Polizist sie gemeinsam mit einem Zivilisten vergewaltigte, bat Vasfije Krasniqi darum, sie umzubringen. Sie war erst 16, als die beiden Männer sie am 14. April 1998 aus ihrem Elternhaus im Norden des Kosovo entführten. Damals wünschte sie sich den Tod - als einzigen Ausweg. "Doch der Polizist antwortete: Nein, du bleibst am Leben, denn dann wirst du noch mehr leiden", sagte Vasfije Krasniqi in einem Interview mit dem kosovarischen TV-Sender RTK. Nach dem Kosovo-Krieg hatte sie sich an die Interims-Verwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo (UNMIK) gewandt, um gegen ihre Peiniger zu klagen. Doch nach drei Gerichtsverfahren wurde keiner von ihnen bestraft. Der Polizist von damals ist immer noch Polizist.
Die heute 36-jährige Vasfije Krasniqi wohnt inzwischen in Texas und hat zwei Kinder. Im Oktober ist sie in den Kosovo zurückgekehrt, um in einem 25 Minuten langen TV-Interview ihre Geschichte zu erzählen.
Schätzungen zufolge haben Tausende von Menschen während des Kosovo-Kriegs (1998/1999) sexuelle Gewalt erlitten. Anders als Vasfije Krasniqi trauten sich die meisten nicht, darüber zu sprechen. Doch das ändert sich langsam: 278 weibliche und zwei männliche Opfer haben nach vielen Jahren des Schweigens mit Vertrauenspersonen der NGO Medica Gjakova im Kosovo offen darüber gesprochen, was ihnen widerfahren ist. Diese Nichtregierungsorganisation registriert und unterstützt Opfer von sexueller Gewalt im Kosovo-Krieg.
Auf der Grundlage dieser Informationen erforschte die Soziologin und Politik-Analystin Anna Di Lellio dieses schwierige Thema. Die Professorin an der New York University lebte mehrere Jahre im Kosovo. Zusammen mit Garentina Kraja, einer Forscherin aus dem Kosovo, und Mirlinda Sada, der Direktorin von Medica Gjakova, veröffentlichte sie vor Kurzem eine Studie mit den Ergebnissen im Magazin Prishtina Insight. "Wir können jetzt zeigen, dass die Opfer an bestimmten Orten und bestimmten Tagen vergewaltigt wurden - genau dort, wo es zu Massenmorden kam", sagt Anna Di Lellio im Gespräch mit der DW. "So fügt sich ein Gesamtbild zusammen, zu dem der Mord an Dutzenden, manchmal auch Hunderten von Männern gehört, und eine ungefähr gleich hohe Zahl an Vergewaltigungen, sowie niedergebrannte Häuser und Massenvertreibungen. Das ist ein Bild sogenannter 'ethnischer Säuberungen', wenn Häuser zerstört, Bewohner vertrieben, Männer getötet und Frauen - sowie einige der Männer - vergewaltigt werden." In ihrer Studie erinnert Anna Di Lellio auch daran, dass "das Verbrechen der sexuellen Gewalt im Krieg während des Bosnien-Kriegs zum ersten Mal als 'Kriegswaffe' bezeichnet wurde".
"Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
Auf ähnliche Weise wurden auch die Opfer im Kosovo "aufgrund ihrer ethnischen Herkunft vergewaltigt und gedemütigt", erläutert Anna Di Lellio. "Was serbische Polizisten, Militärs und Paramilitärs den Albanern im Kosovo-Krieg angetan haben, war eine ethnische Säuberung - und Vergewaltigung war ein Instrument, das zu dieser Strategie gehörte." Diese Vergewaltigungen waren "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Die Schilderungen der 280 Überlebenden haben viel gemeinsam: Immer ist von mehreren Vergewaltigern die Rede, außerdem wurden die Opfer auch gefoltert, geschlagen und mit brennenden Zigaretten gequält. Während sie diesen Albtraum durchlitten, wurden sie auch immer wieder gedemütigt mit Sätzen wie: "Ihr seid albanische Frauen, also könnt ihr das ertragen, ihr seid ja daran gewöhnt!" oder "Wir werden euch schon zeigen, was echte serbische Männer sind!". Bis auf elf Roma-Frauen waren alle anderen der 280 Opfer, die mit Medica Gjakova über ihre Erfahrungen gesprochen haben, albanische Frauen und Männer. Die Täter waren alle serbische Männer - mit Ausnahme eines Albaners, der von einer Roma-Frau belastet wurde.
Für die Überlebenden nimmt der Krieg kein Ende
Während des Krieges gehörte das Thema sexuelle Gewalt zwar zum öffentlichen Diskurs, doch im Nachkriegs-Kosovo wurde meistens darüber geschwiegen. Die inzwischen verstorbene Sevdije Ahmeti, eine der führenden Aktivistinnen während des Krieges, wandte sich mit 37 Fällen sexueller Gewalt an die UNMIK. Auf institutioneller Ebene passierte allerdings nichts. Vor allem Frauenrechtsorganisationen setzten sich für die Opfer ein und arbeiteten daran, diese zu identifizieren und zu rehabilitieren.
Fünf Überlebende haben als Zeugen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag gegen angeklagte serbische Sicherheitskräfte und Militärs ausgesagt. Nur ein einziges Urteil bezog sich auch auf den Anklagepunkt sexuelle Gewalt, im Fall des Generals Nebosja Pavkovic: "Er hätte von den Vergewaltigungen wissen sollen", hieß es im Urteil, weil das Militär in Serbien davon berichtet habe, "aber er tat nichts, um sie zu beenden." In drei anderen ähnlichen Fällen wurden die Angeklagten zuerst freigesprochen, später aber, im Berufungsverfahren, letztlich doch schuldig gesprochen.
Zwischen 2002 und 2014 hat sich die Perspektive des ICTY verändert: Die Richter haben begonnen, im Fall des Kosovo den Gesamtkontext der sexuellen Gewalt - also Massenvertreibungen, Mord und Zerstörung - zu berücksichtigen. Sie bezeichneten sie als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und verurteilten die Befehlshaber, die das ermöglicht hatten.
Für die Opfer sexueller Gewalt ist der Krieg noch nicht zu Ende. "Und er wird auch nie enden, sondern für diese Menschen so lange dauern, wie sie leben", sagt Anna Di Lellio. "Aber wir können ihnen helfen, indem wir verstehen, was sie durchgemacht haben, und sie unterstützen. Gerechtigkeit wäre natürlich gut, aber es ist schwer vorstellbar, dass sie jedem der Opfer widerfährt. So viele Jahre sind schon vergangen. Es wäre aber unglaublich, wenn Serbien anerkennen würde, was Serben damals dem Kosovo angetan haben."