"Zuschauer brachten mich aus dem Konzept"
21. Juli 2021Ob die Olympia-Medaille noch da ist, eingeschlossen im Schrank, unten im Keller? Was ist mit dem seidenen Wimpel mit dem Tokyo-1964-Logo? Oder der japanischen Briefmarkensammlung?
Hans Kaupmannsennecke weiß es nicht. Er und seine Frau Renate wurden in ihrer Wohnung in Bad Neuenahr in der vergangenen Woche nachts vom plötzlich stark ansteigenden Hochwasser und der daraus resultierenden Flutwelle der Ahr überrascht - wie so viele Menschen in der Region.
Die Wassermassen rissen Brücken mit, Autos, Caravans und Möbel wurden weggespült wie Blätter, Straßen und Gebäude überflutet. In der Eisdiele schräg gegenüber, die erst vor einem halben Jahr eröffnet hatte, stapeln sich jetzt die Autos.
Noch immer ohne Strom und Wasser
"Es knallte wie bei Kanonenschüssen, als die Fensterscheiben der Geschäfte und Häuser von den Wassermassen eingedrückt wurden", erzählt der 84-Jährige der DW. "Das sind Bilder und Eindrücke, die man kaum beschreiben und begreifen kann, wenn man nicht vor Ort war."
Zahlreiche Menschen starben in Bad Neuenahr-Ahrweiler, noch immer müssen die meisten Menschen ohne Wasser und Strom auskommen. Wer konnte, ist geflüchtet. Hans und Renate sowie Tochter Claudia sind behelfsweise bei der anderen Tochter Anja in Kerpen untergebracht.
Die Wohnung im vierten Stock ist unbeschadet. Aber all die Sachen im Keller, die vielen Gegenstände aus dem ereignisreichen Leben, werden demnächst aus den Schlammmassen mühsam zusammengesammelt werden müssen. Vieles dürfte für immer verloren sein.
"Das wäre sehr traurig", meint der ehemalige Luftwaffenoffizier. "Aber die Erinnerungen, die bleiben mir ja erhalten". Wie die von den Olympischen Spielen in Tokio - vor 57 Jahren.
Der große Traum: Deutscher Meister
"Bei der Eröffnungsfeier lief es hinter den Kulissen sehr hektisch ab. Aber dann der Einlauf ins Olympiastadion, wenn so eine Menschenmenge auf dich herabschaut, das ist schon toll", erzählt Kaupmannsennecke, der als Sportschütze für Deutschland in Tokio teilnahm - obwohl er erst vor knapp zwei Jahren zuvor die Sportart kennengelernt hatte.
Eigentlich war es schon als Junge sein Traum gewesen, einmal Deutscher Meister zu werden, egal in welcher Sportart. 1937, noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, wuchs Kaupmannsennecke in Hamburg auf und probierte sich zunächst als Boxer, dann als Ruderer. Nach dem Abitur ging er zur Luftwaffe, zog ständig um und musste sich immer weider einen neuen Sport suchen: Eishockey, Eisschnelllauf, Radrennen, Fechten, Motorcross, Fallschirmspringen - Kaupmannsennecke probierte alles aus.
Im Steinbruch auf Blechdosen geschossen
"Eines Nachmittags bin ich von amerikanischen Offizieren, die in einem Steinbruch schießen gingen, eingeladen worden", so Kaupmannsennecke, der von seinen Freunden wegen seines langen Nachnamens mit 16 Buchstaben oft nur "Sixteen" genannt wurde. So schoss er im Frühjahr 1963 erstmals in seinem Leben auf Blechdosen. "Es hat Spaß gemacht, und ich konnte das gleich viel besser als die amerikanischen Berufssoldaten."
Von seinem neuen Verein, den Gewehr- und Pistolenschützen Detmold, wurde Kaupmannsennecke gleich zu einem Lehrgang mit der Luftpistole geschickt - dann zu einem weiteren, bei dem er erstmals in der Disziplin Freie Pistole antrat. Das Handgelenk muss beim Pistolenschuss auf die 50 Metern entfernte Zielscheibe frei beweglich sein. Der Neuling gewann den Wettbewerb. "Alle wissen hier Bescheid, nur einer nicht", sagte damals der Bundestrainer Siegfried, genannt "Siggi", Arnold und sah Kaupmannsennecke an: "Das hier ist ein National-Lehrgang."
EM-Dritter in Stockholm
Daraufhin nahm der Sportschützen-Debütant an den Europameisterschaften in Stockholm teil - und wurde mit der Pistolenschützen-Mannschaft Dritter. Im Herbst 1963 wurde sein Traum wahr: "Sixteen" siegte bei den Deutschen Meisterschaften - mit dem Luftgewehr und im Wettbewerb Freie Pistole. "Das war ein ziemlich emotionaler Moment, da entgleisen einem die Gesichtszüge", erinnert sich Kaupmannsennecke.
Beim Ausscheidungskampf für die Olympia-Teilnahme 1964 in Tokyo musste er mit den letzten fünf Schüssen 48 Ringe schießen - er schaffte 49. Zusammen mit drei Pistolenschützen aus der DDR - es war für Jahrzehnte das letzte Mal, das eine gesamtdeutsche Mannschaft bei den Olympischen Spielen antrat - bildete er ein Team.
Austausch mit Athleten aus aller Welt
"Mit den Athleten aus der DDR hatte ich kaum Kontakt, die wurden dauernd überwacht. Die Russen dagegen war sehr aufgeschlossen." Besonders mit Wladimir Stolypin, dem späteren Weltmeister, habe er sich sehr gut verstanden, mit den amerikanischen Sportschützen ebenfalls.
Im Olympischen Dorf wohnte Kaupmannsennecke neben Langstreckenläufer Harald Norpoth, der überraschend über 5.000 Meter die Silbermedaille gewann. Und er freundete sich mit Wilfried Dietrich an, dem "Kran von Schifferstadt", der bei den Sommerspielen 1960 in Rom Olympiasieger im Freistil-Ringen geworden war.
Und sein Wettkampf? "Ach der", seufzt Kaupmannsennecke. "Erst war es schön, dann brach eine Welt für mich zusammen." Zweieinhalb Stunden Zeit für insgesamt 60 Schüsse hatten die über 100 Teilnehmer, die gleichzeitig nebeneinander am Schießstand standen.
Im Wettkampf zu nervös
"Am Anfang lief es gut. Aber dann versammelten sich immer mehr Zuschauer hinter mir. Das brachte mich aus dem Konzept. Ich glaube, es war der 28. Schuss, der sich dann zu früh löste. Von da an war es für mich vorbei", erinnert sich Kaupmannsennecke, der 1977 mit der Großkaliberpistole Vize-Weltmeister des Militärs wurde. "Da wurde ersichtlich, wie unerfahren ich im Wettkampf war."
Zuschauer werden diesmal, 57 Jahre später, bei den zweiten Olympischen Spielen in Tokio aufgrund der Corona-Pandemie nicht dabei sein. Vielleicht hätte Kaupmannsennecke unter diesen Voraussetzungen ja eine Olympia-Medaille gewonnen.
Die Suche nach der Medaille
Hätte, wenn und aber. So aber schwimmt nun die bronzene Medaille von 1964, die alle Olympia-Teilnehmer bekamen, irgendwo im überfluteten Keller in Bad Neuenahr-Ahrweiler oder ist unter den Schlammmassen versteckt. Ebenso der seidene Tokio-Wimpel und die japanischen Briefmarkensammlung. Frühestens in zwei Wochen, vermutlich erst, wenn die Olympischen Spiele vorbei sind, wird Kaupmannsennecke zurückkehren und sich auf die Suche begeben.