Als Hebamme im Flüchtlingsheim
26. September 2018Manchmal greifen Grit Weise und Carlotta von Klinkowström zu ungewöhnlichen Methoden. Wenn beispielsweise bei einer werdenden Mutter die Brust abgetastet werden muss, dann stellt sich eine von ihnen wie ein Bodyguard draußen vor die Tür, damit niemand hereinplatzen kann. Die Frauen, die vor Krieg, Gewalt und Armut geflohen sind, sollen sich bei ihnen sicher fühlen. "Wir versuchen, ihnen so gut es geht einen geschützten Raum zu bieten, ein kleines bisschen Intimsphäre", sagt von Klinkowström.
Einmal pro Woche kommen die beiden freien Hebammen für knapp zwei Stunden ins Flüchtlingsankunftszentrum Bad Fallingbostel. Die Einrichtung im norddeutschen Bundesland Niedersachsen nimmt regulär bis zu 800 Geflüchtete auf, die meisten kommen aus Syrien, Irak, der Türkei und Afghanistan. Im Moment sind es allerdings über 950. Ursache dafür ist eine Maserninfektion in einer anderen Flüchtlingsunterkunft in der Nähe. Aufgrund der Quarantäne sprang Fallingbostel kurzfristig ein und nahm über Wochen sämtliche Neuankömmlinge der Region auf.
Privilegien für Schwangere
Wie viele schwangere Frauen unter den Bewohnern des Camps sind, darüber gibt es keine Statistik. Aber Babybäuche sieht man immer wieder auf den Straßen des riesigen Geländes, das bis vor drei Jahren eine britische Kaserne war.
In einem der vielen Gebäude ist die Sanitätsstation untergebracht, wo auch die Hebammen ihr Untersuchungszimmer haben. Ganz schlicht: Ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Liege für die Untersuchungen, an den Wänden große Baby-Fotos. Etwa fünf Frauen betreuen die Hebammen durchschnittlich bei ihrem wöchentlichen Besuch. Frauen wie die 33-jährige Nigerianerin Olasumbo Are, die im Oktober ihr zweites Kind erwartet, einen Jungen. Ihre einjährige Tochter Zoé hat sie zur Untersuchung mitgebracht, sie sitzt im Kinderwagen.
Alle Schwangeren in Bad Fallingbostel bekommen Termine bei den Hebammen. "Die regelmäßige Vorsorge für Schwangere ist eine Standardleistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die den werdenden Müttern hier genauso zusteht wie in Deutschland gesetzlich versicherten Frauen", erklärt Birgit Gerdes, die Leiterin des Ankunftszentrums für Geflüchtete. Schwangere genießen damit einen Sonderstatus gegenüber anderen Asylbewerbern. Bei ihnen werden deutlich mehr Untersuchungen genehmigt.
Während eines laufenden Asylverfahrens können Geflüchtete keiner gesetzlichen deutschen Krankenkasse beitreten. Es ist Aufgabe der Kommunen, ihre medizinische Versorgung zu organisieren. Und die ist nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in den ersten 15 Monaten auf das Nötigste beschränkt. Sie umfasst Impfungen sowie die Behandlung von akuten Erkrankungen oder Schmerzen.
Improvisation ist gefragt
Olasumbo Are sitzt im Beratungsgespräch mit Hebamme Grit Weise. Sie hat eine Schwangerschaftsdiabetes, muss deshalb auf ihre Ernährung achten. Die Kommunikation mit der Nigerianerin funktioniert reibungslos, die Frau ist Mikrobiologin und spricht sehr gut Englisch. Are berichtet, dass sie vor einem gewalttätigen Mann aus ihrer Heimat geflohen sei – dem Vater ihrer Tochter Zoé. Die beiden Frauen brauchen keinen Dolmetscher, um sich zu verständigen.
Bei den meisten Frauen ist die Situation aber anders als bei Olasumbo Are, sie sind keine Akademikerinnen und sprechen nur ihre lokale Muttersprache. "Die Verständigung ist dann oft sehr abenteuerlich", sagt Grit Weise. "Teilweise haben wir es nicht nur mit fremden Sprachen zu tun, sondern dazu noch mit Dialekten, die auch keiner der Dolmetscher, die hier für uns übersetzen, beherrscht."
Die Hebammen haben einen Ordner, in dem auf Bildern die wichtigsten Themen rund um die Schwangerschaft erklärt werden. Auch kurze Texte gibt es dazu, in mehreren Sprachen, beispielsweise arabisch, dari oder kurdisch. Richtig schwierig wird es, wenn die Frauen nicht lesen können. Für sie hat sich Grit Weise extra ein 'Ohne-Wörter-Buch' gekauft. "Zur Not muss es mit Händen und Füßen gehen. Wichtig ist halt, dass wir so viele Informationen von den Frauen bekommen wie möglich, beispielsweise zum bisherigen Verlauf der Schwangerschaft oder zu früheren Geburten."
Intime Fragen
Neben der Sprache gibt es noch ein anderes Problem. "Wenn die Frauen aus streng patriarchalischen Gesellschaften stammen, beispielsweise aus Afghanistan, dann sind sie es nicht gewöhnt, dass man Fragen direkt an sie richtet, und dann auch noch zu so intimen Details", erklärt Weise. "Für uns ist es beispielsweise wichtig zu wissen, wann eine werdende Mutter ihre letzte Regelblutung hatte. Aber wenn das ein männlicher Dolmetscher übersetzen muss, dann ist das sehr unangenehm, und zwar für beide."
Haroon Khan ist einer dieser Dolmetscher, die in der Sanitätsstation arbeiten. Er ist beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) angestellt, das mit dem Ankunftszentrum zusammenarbeitet. 2012 kam der Afghane selbst als Flüchtling nach Deutschland. Neben seiner Muttersprache paschtu spricht er nicht nur gut deutsch, sondern auch dari, farsi, urdu, arabisch, punjabi und englisch. Er habe sich alles selbst beigebracht, erzählt er stolz. Einen Schulabschuss hat er nicht.
Im Ankunftszentrum hören die Hebammen die Herztöne der Babys ab, sie führen Schwangerschaftstests durch und stellen sogenannte Mutterpässe aus, in denen die Entwicklung des Fötus genau dokumentiert wird. Ultraschall- oder andere weiterführende Untersuchungen finden hier aber nicht statt. Das Flüchtlingsheim hat dafür eine Kooperation mit einer lokalen Frauenärztin.
Dolmetscher Haroon Khan fährt oft mit in die Praxis. "Ich bleibe nur zum Vorgespräch. Wenn die Ärztin dann die Patientin untersucht, warte ich draußen." Trotz der sensiblen Gespräche hat er bislang das Gefühl, dass die Frauen dankbar sind für seine Anwesenheit. "Den meisten ist es trotz allem wichtiger, dass da jemand ist, mit dessen Hilfe sie sich mit der Ärztin austauschen können."
Zur Entbindung selbst werden die Schwangeren ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht. "Geburten leiten wir hier im Ankunftszentrum nicht", erklärt Hebamme Grit Weise. "Es sei denn, es würde ganz plötzlich passieren, während wir gerade da sind." Aber das, so ergänzt sie mit einem Lächeln, sei bis jetzt noch nicht passiert.
Keine Verlegung kurz vor der Geburt
Nicht mehr als zwei bis vier Wochen sollen die Bewohner eigentlich im Ankunftszentrum Bad Fallingbostel verbringen, bevor sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Bescheid bekommen, wie es für sie weitergeht. Ob sie in eine andere Unterkunft verlegt oder einer Kommune zugeteilt werden oder ob sie wieder nach Hause müssen.
Bei schwangeren Frauen und ihren Familien kann sich dieser Zeitraum aber verlängern. "Jeder geplante Transfer einer Schwangeren muss vorher mit der Sanitätsstation abgesprochen werden", erklärt Standortleiterin Gerdes. Steht eine Frau weniger als drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, soll sie nicht mehr verlegt werden. Ungefähr 25 Frauen pro Jahr entbinden tatsächlich während ihres Aufenthalts im Ankunftszentrum, schätzt Gerdes.
Auch nach der Geburt dürfen die Mütter erst einmal bleiben. So soll sichergestellt werden, dass Nachsorgetermine in einer Hand bleiben. Bei der Entscheidung, wann Mutter und Kind aus Fallingbostel verlegt werden können, reden auch die Hebammen Weise und von Klinkowström mit. Erst, wenn sie Mütter und Babys für fit genug halten, gibt es grünes Licht für eine Verlegung.
Ein Neuzugang in Fallingbostel
Schlafend liegt Gülizar im Arm ihres Vaters, rosig, winzig. Gerade sechs Tage ist sie alt. Die Familie steht ein wenig verloren im Gang vor dem Untersuchungszimmer und wartet auf ihren Nachsorgetermin Der Vater hält seine Tochter behutsam, ein wenig ungeübt vielleicht noch. Als ihre rosafarbene Mütze vom Kopf rutscht, schiebt er sie millimetergenau hin und her, bis sie wieder richtig sitzt.
Gülizar ist sein erstes Kind. Neben ihm steht seine Frau, sie wirkt erschöpft, aber glücklich. Die Anstrengungen der Geburt und die Strapazen der letzten Wochen und Monate haben Spuren hinterlassen. Das kurdische Paar kam aus der Türkei, seit anderthalb Monaten sind sie in Deutschland. Die Reise als Hochschwangere sei sehr belastend gewesen, sagt die 20-jährige Mutter.
Und fast hätte sie vor der Entbindung sogar noch eine weitere Reise antreten sollen, wenn die Mitarbeiter der Sanitätsstation nicht eingeschritten wären. Es war passiert, was eigentlich nicht passieren soll. Die Namen des Paares waren versehentlich auf einer Transfer-Liste gelandet. Der Fall ging gut aus, doch es gibt viele Geschichten, die unvollendet bleiben, bedauert Carlotta von Klinkowström. "Eigentlich würde man die Frauen gerne länger begleiten. Aber dann sind sie von einem Tag auf den anderen wieder weg und wir wissen, dass wir sie wahrscheinlich nie wiedersehen."
Auch den Sohn von Olasumbo Are aus Nigeria werden die Hebammen wohl nicht mehr kennen lernen. Denn bis zum errechneten Geburtstermin sind es noch mehr als sechs Wochen.