Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht
24. Juni 2022Sechs der neun Richter stimmten für diese Entscheidung, wie der Supreme Court mitteilte. "Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung", heißt es in der Urteilsbegründung. Die Entscheidung hatte sich bereits abgezeichnet, nachdem Anfang Mai ein Urteilsentwurf durchgestochen worden war. Damit ist das bisherige Recht auf Abtreibung in den USA Geschichte. Die Entscheidung gilt als politisches Erdbeben.
US-Präsident Joe Biden bezeichnete das Urteil als "tragischen Fehler". Die Entscheidung gehe auf eine "extreme Ideologie" zurück und habe den Frauen in den USA ein verfassungsmäßiges Recht "weggenommen", sagte Biden in Washington. "Die Gesundheit und das Leben der Frauen dieses Landes sind jetzt in Gefahr", warnte der Präsident.
"Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diesen zutiefst unamerikanischen Angriff zu bekämpfen." Der US-Kongress müsse jetzt handeln, um in der Sache das letzte Wort zu haben. "Es ist nicht vorbei", so Biden.
Das Urteil sorgte bei Republikanern und religiösen Konservativen, die seit Jahrzehnten auf diese Entscheidung hingearbeitet hatten, für Jubel. "Wir begrüßen diese historische Entscheidung, die unzählige unschuldige Leben retten wird", schrieben die führenden Republikaner im US-Kongress, Kevin McCarthy, Steve Scalise und Elise Stefanik, in einer gemeinsamen Erklärung. Demokraten und Frauenrechtler zeigten sich entsetzt. "Dieses grausame Urteil ist empörend und herzzerreißend", sagte die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi.
In einem Grundsatzurteil hatte der Supreme Court 1973 im Fall Roe v. Wade landesweit Abtreibungen bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, also etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche, ermöglicht. Damals leitete das Gericht ein bundesweites Recht auf Abtreibung aus dem Recht von Frauen auf Privatsphäre ab.
Bundesstaaten können jetzt entscheiden
Mit dem neuen Urteil des Obersten Gerichts können die 50 Bundesstaaten in den USA über ein Recht auf Abtreibung auf der jeweiligen Landesebene entscheiden. Mehrere von ihnen haben bereits Gesetze erlassen, die nach dem nun erfolgten Wegfall der bundesstaatlichen Regelung die Abtreibung stark einschränken. Ein Gesetzentwurf der Demokraten für ein Recht auf Abtreibung auf Bundesebene war Mitte Mai im Senat gescheitert.
Nach dem wegweisenden Urteil rechnen Frauen- und Pro-Choice-Gruppen mit einem Anstieg von Abtreibungstourismus aus "roten", also republikanisch regierten, in "blaue", also demokratisch regierte Bundesstaaten.
Scharfe Kritik der Vereinten Nationen
Die Beauftragte für Menschenrechte der Vereinten Nationen hat die Entscheidung des Supreme Courts scharf kritisiert. Dies sei "ein schrecklicher Schlag gegen die Menschenrechte der Frauen", erklärte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet. "Der Zugang zu sicheren, legalen und wirksamen Abtreibungen ist fest im internationalen Menschenrecht verankert."
Die Einschränkung des Rechts auf Abtreibung sei ein "bedeutender Rückschritt", führte Bachelet aus. Die Freiheit, Schwangerschaften legal und unter medizinischer Aufsicht zu beenden "steht im Mittelpunkt der Autonomie von Frauen und ihrer Fähigkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen".
Vatikan reagiert moderat
Die Päpstliche Akademie reagierte moderat auf das Abtreibungsurteil. In einer Erklärung hieß es: "Nach 50 Jahren ist es wichtig, wieder eine ideologiefreie Debatte zu beginnen über den Stellenwert, den der Schutz des Lebens in der zivilen Gesellschaft hat, um uns zu fragen, welche Art von Zusammenleben und Gesellschaft wir aufbauen wollen." Papst Franziskus, von dem es zunächst keine persönliche Reaktion zu dem Urteil gab, hatte stets betont, dass er gegen jede Form von Abtreibung sei; er setzte sie mit Mord gleich.
Die katholischen Bischöfe in den USA äußerten sich positiver. "Dies ist ein historischer Tag im Leben unseres Landes, der unsere Gedanken, Gefühle und Gebete weckt." Seit einem halben Jahrhundert habe Amerika ein ungerechtes Gesetz vollstreckt, das es einigen ermöglichte, "zu entscheiden, ob andere leben oder sterben können", hieß es in einem Statement der Konferenz der US-Bischöfe.
Das Abtreibungsrecht ist in den USA immer wieder Thema heftiger Auseinandersetzungen. Gegner versuchen die liberalen Regeln seit Jahrzehnten zu kippen. Unter dem vorigen Präsidenten Donald Trump rückte der Supreme Court deutlich nach rechts. Die Entscheidung gegen das liberale Abtreibungsrecht bezeichnete er als "Gewinn für das Leben". Das Urteil sei nur möglich gewesen, weil er drei konservative Richter an das Oberste Gericht berufen habe. Der Republikaner ernannte während seiner Amtszeit die Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Die Richterinnen Sonia Sotomayor und Elena Kagan sowie Richter Stephen Breyer stimmten gegen die Entscheidung. Sie gelten als liberal.
nob/uh (dpa, rtr, afp)