"Nur die Europäer können in Syrien vermitteln"
29. September 2012DW: Herrr Naeem, die Gewalt in Syrien eskaliert immer mehr. Warum ist es so schwer, die Waffen zum Schweigen zu bringen?
Das Problem ist, dass beide Parteien, nachdem sie die Waffen einmal ergriffen haben, diese nicht mehr aus der Hand legen können. Tut eine der beiden Seiten das, wird sie von der anderen getötet. Hier spielt die Konfessionalisierung des Konflikts eine Rolle: Die Alawiten werden von den Aufständischen in Kollektivhaft genommen. Sie können nicht damit rechnen, nach Ende des Krieges weiter in Syrien zu leben. Darum haben sämtliche Parteien nur eine einzige Wahl: nämlich auf alles oder nichts zu setzen.
In dieser Situation schlagen Sie Europa als Vermittler vor. Was macht die Europäer aus ihrer Sicht so geeignet?
Wenn die Europäer in der Lage sind, mit einer Stimme zu sprechen und auch eine andere Position als China und Russland einerseits und die USA andererseits zu beziehen, könnten sie eine sehr erfolgsversprechende Vermittlungsposition einnehmen. Es ist Kennzeichen diplomatischer Kunst, sich zwischen beide Parteien zu setzen und aus einer unabhängigen und unparteiischen Position heraus zu agieren. Derzeit wird aber vor allem über die Zeit nach Assad spekuliert: die neue politische und wirtschaftliche Ordnung, das Verhältnis der Konfessionen. Das ist alles gut und schön. Aber derzeit muss es um etwas anderes gehen – nämlich darum, dass die Waffen schweigen. Ein Bürgerkrieg ist militärisch aber nicht zu gewinnen. Und darum setze ich auf die Europäer. Sie sind die einzigen, die noch etwas bewegen können. Europa hat kein unmittelbares Interesse, das es durchbringen muss. Europas einziges Interesse ist es, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Insofern ist es unparteiisch und dadurch glaubwürdig.
Dennoch bräuchten wohl auch die Europäer ein Quäntchen Glück bei diesem Unterfangen. Das dürfte vor allem an der bereits erwähnten Konfessionalisierung des Kriegs liegen. Worauf geht diese denn zurück?
Naseef Naeem: Die syrische Gesellschaft ist ethnisch, kulturell und konfessionell sehr vielfältig. Man kann sie nicht als einheitlich betrachten. Syrien setzt sich aus Menschen unterschiedlichster Zugehörigkeiten zusammen. Die meisten Syrer definieren sich vor allem konfessionell. Dem entspricht, dass auch das syrische Personenstandsrecht auf religiösen und ethnischen Kategorien beruht. Die staatlichen Normen entsprechen dieser Vielfalt und fördern sie in rechtlicher Hinsicht zugleich. Und das spiegelt sich auch in der Politik.
Sie verweisen auf das syrische Personenstandsrecht. Wie ist dieses denn strukturiert?
Es gibt unterschiedliche Arten des Personenstandsrechts. Jede christliche Kirche in Syrien hat ihr eigenes: die orthodoxe ebenso wie die katholische. Und die Muslime haben das ihre, das sich aus dem islamischen Recht ableitet. Der Staat erlässt die entsprechenden Gesetze in enger Absprache mit den Religionsgemeinschaften. Darum fühlen sich die Syrer als erstes ihrer konfessionellen oder, Stichwort Kurden, ethnischen Gemeinschaft zugehörig – und erst danach dem Staat.
Viele Beobachter berichten, der Aufstand gegen das Assad-Regime sei überkonfessionell. Dem widersprechen Sie. Warum?
Zu Anfang des Krieges erklärte ein Teil der Syrer – unabhängig von ihrer jeweiligen Konfession – sie wollten einen Regierungswechsel. Auch in den Medien war überwiegend von einem religionsübergreifenden Aufstand die Rede. Andere Syrer widersprachen dem. Sie sagten, es handle sich um einen rein sunnitischen Aufstand. Vertreter der Christen und anderer Minderheiten erklärten, mit dem Aufstand nichts zu tun zu haben. Es mag sein, dass das zunächst zutraf. Aber inzwischen hat dieser Aufstand einen konfessionellen Charakter angenommen – ob wir es hinnehmen wollen oder nicht.
Wie begründen Sie diese These?
Nehmen Sie etwa die Stadt Homs. Sie ist in konfessionelle Sektoren aufgeteilt. Die Christen haben die Stadt überwiegend verlassen und Zuflucht in den umliegenden christlichen Dörfern gesucht. In der Stadt selbst sind die Wohngebiete der Alawiten vergleichsweise ruhig. Diejenigen hingegen, in denen die Sunniten leben, sind heftig umkämpft. Im Gespräch mit Syrern vor Ort hört man es immer wieder: Die Gesellschaft ist nach Konfessionen geteilt.
Womit erklären Sie diese starke konfessionelle Logik?
Das Problem ist, dass es in Syrien keine andere Zugehörigkeit als die konfessionelle und ethnische gibt. Nehmen Sie etwa die Baath-Partei: In den entscheidenden Gremien gibt es immer einen bestimmten Proporz. In einem zehnköpfigen Gremium sitzen in der Regel sechs Sunniten, zwei Alawiten und zwei Christen. Das heißt, die Prägung des Staates und seiner Institutionen wie auch der gesamten politischen Landschaft ist konfessionell ausgerichtet. Sicher hat das gegenwärtige Regime wie alle anderen Regime vor ihm diese Konfessionalisierung zum Zweck des eigenen Machterhalts missbraucht. Aber historisch reicht diese Spaltung viel weiter zurück: Geschaffen wurde sie durch das französische Mandat. Die Franzosen wählten die Alawiten für das Militär aus, die Sunniten für die Wirtschaft und die Christen für die Verwaltung. Diese Teilung hat sich im Laufe der Zeit gefestigt. In diesem Zusammenhang kam auch Hafez al-Assad 1970 an die Macht. Im Irak verlief es ähnlich. Dergleichen passiert in künstlich geschaffenen Staaten.
Naseef Naeem ist Jurist mit dem Schwerpunkt Verfassungsrecht. Er arbeitete als Anwalt in Damaskus. Derzeit unterrichtet an der Universität Göttingen. Naeem gehört der christlichen Minderheit an.
Die Fragen stellte Kersten Knipp.