Brexit reißt in Nordirland alte Wunden auf
23. Oktober 2018Am 23. Oktober 1993 brachte Alan McBride seine Frau Sharon an einem, wie er sagt, "wunderschönen Morgen" zur Arbeit in der Imbissstube ihres Vaters, in der das britische Nationalgericht "Fish and Chips" verkauft wird. Es war das letzte Mal, dass er sie lebend sah.
"Menschen durchsuchten die Trümmer nach Überlebenden und Leichen", erinnert sich McBride an das, was er später an dieser Stelle sah. "Der Gestank von brennendem Schutt lag schwer in der Luft. Sirenen waren zu hören, Leute schrien. Es herrschte totales Durcheinander."
Sharon McBride war eine von zehn Personen, die getötet wurden, als eine Bombe in dem Imbiss in Belfast detonierte. Paramilitärs der Provisorischen Irisch-republikanischen Armee, besser bekannt als IRA, hatten die Bombe dort platziert. Ihr Ziel war ein Büro einer gegnerischen paramilitärischen Gruppe, der Ulster Defence Association (UDA), das sich über dem Familienbetrieb befand.
"Sie war eine wundervolle, wundervolle Frau, so hübsch anzuschauen und es war wunderschön, mit ihr zusammen zu sein", erzählt McBride der Deutschen Welle. "Sie war witzig und ein Arbeitstier. Sie scheute sich nicht davor, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie liebte ihre Familie und vergötterte ihre Tochter."
Die 29-jährige Mutter ist eines der mehr als 3600 Opfer des Nordirland-Konflikts, der 1968 begann und 30 Jahre lang anhielt. Im Englischen wird auf die Zeit oft nur unter dem Schlagwort "die Unruhen" Bezug genommen. In diesem Konflikt standen sich die überwiegend katholischen Nationalisten, die Nordirland am liebsten mit der Republik Irland vereinigt sehen würden, und die größtenteils protestantischen Unionisten gegenüber, die im Vereinigten Königreich bleiben wollen.
Neuer Gewalt vorbeugen
1998 wurde der hart erkämpfte Frieden im Karfreitagsabkommen festgeschrieben. 20 Jahre später mehren sich nun Befürchtungen, dass der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union alte Wunden wieder aufreissen und zu neuen Gewaltausbrüchen in Nordirland führen könnte.
McBride ist einer der Menschen, die ihre Geschichte in einem voll besetzten Saal in Newry erzählen, einer nordirischen Stadt nicht weit von der Grenze zu Irland. Die meisten der Zuhörer sind älter und dürften die schlimmste Zeit des Konflikts miterlebt haben. Die Veranstaltung wurde von der "Wahrheits- und Versöhnungsplattform" (TARP) ausgerichtet. Die Organisation wurde gegründet, um einer Radikalisierung in den Gemeinschaften der Nationalisten und Unionisten in Folge des Brexits und der Rückkehr der Gewalt entgegenzuwirken.
Stephen Travers, der Vorsitzende von TARP, war Musiker in der "Miami Showband". Als er mit seiner Band 1975 nach einem Konzert die Grenze von Norden nach Süden überquerte, wurden sie beschossen. Travers verlor drei seiner Kollegen, er selbst überlebte schwer verletzt.
Um daran zu erinnern, dass "keine der Konfliktparteien ein Monopol auf Leiden oder Verluste" hat, ist es ihm wichtig, sowohl die Unionisten als auch die Nationalisten anzusprechen. "Wenn eine dieser Geschichten isoliert betrachtet wird, kann sie als Knüppel benutzt werden, um damit die andere Seite zu treffen", sagt Travers. "Unsere Botschaft dagegen ist: Das sind die Konsequenzen, wenn du Gewalt anwendest. Wir glauben, dass die meisten Menschen, die damit konfrontiert werden, es sich zweimal überlegen."
Das Problem der harten Grenze
Während des Konflikts mussten die Menschen an der nordirisch-irischen Grenze militärische Kontrollpunkte passieren. Durch das Friedensabkommen von 1998 wurde die fast hundert Jahre alte und rund 500 Kilometer lange Grenze quasi unsichtbar - plötzlich könnten sich die Menschen auf der Insel frei bewegen. So konnten sich die pro-irischen Nationalisten als Teil Irlands fühlen, während gleichzeitig das Anliegen der pro-britischen Unionisten, zum Vereinigten Königreich zu gehören, erfüllt blieb.
Wenn Großbritannien die EU nun ohne Einigung verlässt, greifen die Regelungen der Welthandelsorganisation (WTO), was bedeutet, dass an der Grenze verschiedene Standards und Zollregeln durchgesetzt werden müssen.
Eine Grenze, die wieder sichtbar wird, hätte einen wesentlichen Einfluss auf diejenigen, die den Konflikt miterlebt haben, besonders auf die Nationalisten, die sich als Iren fühlen. "Das Zeichen, das dadurch gesetzt würde, wäre bedeutend", sagt Dominic Bryan von der Queen's Universität in Belfast, der auf die politische Anthropologie Nordirlands spezialisiert ist. "Die Wirkung, die von Kameras ausgeht, die den Grenzhandel und die Menschen überwachen, wäre enorm. Man kann annehmen, dass einige Menschen sie als legitimes Ziel betrachten würden." In diesem Fall, so befürchtet Travers von TARP, könnten Polizei und schließlich das Militär zum Grenzschutz beordert werden - "und wir haben wieder 1969".
Die EU und die Regierungen von Großbritannien und Irland sagen, sie wollen auf der irischen Insel keine harte Grenze. Bisher gibt es aber keine Lösung, die sowohl die Hardliner unter den Brexit-Befürwortern als auch die Unionisten, Brüssel und Dublin zufriedenstellen könnte.
Im Dezember 2017 kamen die Verhandler auf die Idee des sogenannten Backstop, der in Kraft treten soll, wenn zum offiziellen Austritt keine Vereinbarung getroffen wurde. Bei diesem Szenario bliebe Nordirland vorerst in der Zollunion. Die Zollgrenze würde sich dann in die Irische See verschieben. Genau aus diesem Grund ist die nordirische Democratic Unionist Party (DUP), auf deren Unterstützung Premierministerin Theresa May angewiesen ist, strikt gegen den Backstop. Ihrer Meinung nach gefährdet er die Einheit des Vereinigten Königreiches und erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein vereintes Irland, was für die meisten Unionisten eine rote Linie darstellt.
Der Wunsch nach Eintracht
McBride kann sich eine Rückkehr der Gewalt nicht vorstellen. Aber er sagt, dass der Hass und die Meinungsverschiedenheiten, die seine Kindheit in einem Unionisten-Viertel prägten, noch vorhanden sind. Die Gemeinden wählen immer noch nach nationalen Identitäten, und gelegentlich flackern Spannungen auf. "Viele haben kein Interesse daran, gute Nachbarn zu sein und ich habe keine Ahnung, wie man das ändern kann. Ich denke, wenn die Politiker Führungsqualität beweisen würden, wäre das ein Anfang."
Obwohl McBride denen, die seine Frau töteten, nicht vergeben konnte, verspüre er keine Wut und keinen Hass mehr. Er möchte in einem Nordirland leben, in dem auch die Gemeinden diese Kluft überwinden. "Wir können rausgehen, die unterschiedlichen Traditionen und Kultur feiern und unsere Sehnsüchte haben, in Großbritannien oder einem vereinten Irland zu leben", so die Vision von McBride. Diese Sehnsüchte sollen aber kein Anlass zur Gewalt sein. "Niemand muss auf die Straße gehen und jemanden erschießen, nur weil er anderer Meinung ist. In so einem Irland möchte ich leben."