"Er war ein Kunstmensch durch und durch"
10. März 2014DW: Frau Wagner, Gerard Mortier war einer der großen Erneuerer des Musiktheaters und gleichzeitig auch ein Provokateur. Sie haben ihn ja gut gekannt. Worin besteht aus Ihrer Sicht sein Verdienst für das Musiktheater auf der einen Seite und für den ganzen Kunstbetrieb auf der anderen Seite?
Nike Wagner: Zweifelsohne ist es richtig, Mortier zu den großen und kreativen Musiktheater-Reformern unserer Zeit zu zählen. Was aber hat er denn reformiert? Ich konnte ihn über die Jahrzehnte, besonders bei den Salzburger Festspielen, beobachten: Wogegen er mit wunderbarem Witz, Verve und auch mit Charme vorging ist, ist die Repräsentationskultur - dort, wo sie faul geworden war. In der Ära nach Karajan waren die Symptome ja besonders sichtbar. Mortier ist angegangen gegen den Starkult der Interpreten, die Schlamperei bei orchestralen Praktiken - den sogenannten Substituten, wo der Dirigent des Abends den Musiker vor ihm nie gesehen hat - und gegen die Borniertheit konservativer Kulturpolitiker und Dauer-Abonnenten.
Er wollte den Glanz auf die Werke selbst lenken, und hat immer solche Werke ausgewählt, die ihm die Möglichkeit zu gesellschaftskritischer Reflexion gaben. Von den Werken ausgehen, hieß für ihn auch, Teams zusammenzurufen. Wie würde eine Oper denn klingen, wenn die Dirigenten mit dem Regisseur und dem Bühnenbildner zusammenarbeiteten? Es wurden Konzepte entwickelt, nicht einfach "Opern" abgespielt.
Für die Selbstrettung Salzburgs aber war entscheidend, dass er endlich die Kompositionen des 20. Jahrhunderts auf den Spielplan setzte - Janacek, Messiaen, Ligeti -, selbstverständlich ohne deshalb die Traditionskultur zu zerstören; natürlich gab es Mozart, Verdi und Strauss auch weiterhin, aber eben aus einem neuen, zeitgenössischen Blickwinkel heraus. Die alten Opern wurden in die Hände einer neuen Riege von Theaterregisseuren gegeben, angefangen mit den Schaubühnenleuten, und sehr bald kam sein wilder Liebling Peter Sellars. Mit leidenschaftlichem Engagement und großer Kunstbesessenheit hat Mortier seine Reformen durchgesetzt, gegen die erbitterten Widerstände aus den Reihen der konservativen Garden.
Mortier hat das Musiktheater sowohl im künstlerischen Sinne als auch im Management reformiert. Was bleibt nach seinem Tod an Erneuerungen im Kunstbetrieb?
Er war sicher eine Art Künstlerintendant, jedenfalls ein Kunstmensch durch und durch, der alle seine Begabungen in den Dienst des Musiktheaters und der Oper stellte. Er war auch offen für alle Bereiche der Kunst; auch der bildenden Kunst und der Videokunst - vor allem als Intendant der Ruhrtriennale. Er liebte die Experimente mit neuen Räumen und neuen Mitteln, hat neue Seh- und neue Hörweisen etabliert. Sein Geist, seine Haltung zur Kunst werden vorbildlich bleiben, auch wenn das Musiktheater nach ihm wieder eigene Entwicklungen nehmen wird.
Gibt es im Rückblick auf die gemeinsamen Jahre mit Gerard Mortier persönliche Erinnerungen, die Ihnen besonders wichtig sind?
Ich war normaler Mortier-Fan und bin ihm immer wieder in seine Aufführungen gefolgt, ob in Brüssel, Salzburg oder Paris. Auch habe ich mich immer sehr gefreut, wenn er - stets mit feiner, leiser Stimme - seine Provokationen gegen "heilige Kühe" wie die Wiener Philharmoniker losließ oder über Routine und Schlamperei im Kulturbetrieb schimpfte. Er traf immer ins Schwarze, furchtlos.
Eine besondere Erinnerung an Mortier bilden jene Kontakte im Herbst 2008, als ich ihn bat, mir bei der Bewerbung um die Leitung der Bayreuther Festspiele als Ko-Direktor zur Verfügung zu stehen und sich mit mir zu bewerben. Er wusste, dass die Chancen auf Erfolg gering waren, denn er kannte das politische Spiel, das hier lief und jegliches Hearing zu einer Farce machte. Dennoch stellte er sich in einer grandiosen Rede dem Geldgeber-Gremium und skizzierte mit großer Autorität, wie die Wagnerfestspiele künstlerisch erneuert werden könnten. Man denke, wen die Bayreuther hätten haben können! Naturgemäß hatten wir keine Chance, es war schon alles nach den Wünschen des Bayern-Ministeriums gelenkt worden und vorentschieden. Immerhin aber wurde auf diese Weise sichtbar, dass die Stiftung nicht nach Qualität der Bewerber entschied, sondern nach politischen und dynastischen Erwägungen. Dass Mortier bereit war, sich dieser Bewerbung zu stellen, obwohl er wirklich kein "Wagnerianer" war, dafür liebe und schätze ich ihn für immer. Er hat diesen unangenehmen Gang ausschließlich aus seinem Kunst-Enthusiasmus heraus getan und der war tief mit seiner Kunst-Moral verschwistert: Man darf die Kunst nicht im Stich lassen, nicht einmal "Wagner in Bayreuth"...
Mortier hat seine Veränderungen im Sinne von ganzheitlichen Ansätzen im Musikbetrieb an verschiedenen Wirkungsstätten gelebt. Sie sind jetzt Intendantin des Beethovenfestes Bonns, und auch Sie gehen ganzheitlich an die Dinge heran und werden viele neue Ideen und vielleicht auch Unerhörtes nach Bonn bringen. Gibt es da ein Vermächtnis Mortiers, das sie aus den Erinnerungen mitnehmen?
Seine tiefe Verpflichtung der Kunst gegenüber und seine Experimentierfreudigkeit. Das sind Haltungen, die ich schon von meinem Vater gelernt habe, und auch Mortier ist bei Wieland Wagner geistig in die Schule gegangen. Was ich aber obendrein für meine Bonner Arbeit brauche, ist etwas von der Schlauheit, Wendigkeit und Überzeugungskraft Mortiers. Ich habe einige seiner Auftritte vor Geldgebern miterleben dürfen, vor verschiedenen Kuratorien. Unglaublich, wie es ihm da gelungen ist, Nicht-Kunstmenschen in die Kunst hineinzureden, in die Selbstverpflichtung. Und wie es ihm gelungen ist, Menschen aus ihrer bequemen Gegenwart herauszuholen und für seine Visionen einer Zukunft für die Kunst zu begeistern, phantastisch.
Nike Wagner ist Ur-Urenkelin von Franz Liszt und Urenkelin von Richard Wagner. Nach ihrem Studium schrieb sie wissenschaftliche und publizistische Beiträge für Symposien, Kulturprogramme und den Rundfunk in Deutschland, Österreich, England und Frankreich und trat auch als Buchautorin hervor. 2004 übernahm sie die künstlerische Gesamtleitung des Weimarer Kunstfests. 2008 bewarb sie sich zusammen mit Gerard Mortier um die Leitung der Bayreuther Festspiele. Seit Januar 2014 ist sie Intendantin des Bonner Beethovenfestes.
Das Gespräch führte Adelheid Feilcke.