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PolitikAfrika

Nigeria: Ein Präsident für alle gesucht

Hilke Fischer
22. Februar 2023

Politiker in Nigeria berufen sich seit jeher auf religiöse und ethnische Zugehörigkeiten, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Bei den diesjährigen Wahlen steht für die Menschen aber noch etwas anderes im Vordergrund.

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Nigeria Wahlen 2023
Wahlkampfveranstaltung der Labour Party (LP) in Ibadan, Südwest-Nigeria (November 2022)Bild: Pius Utomi Ekpei/AFP

Die Entschlossenheit steht Bola Tinubu ins Gesicht geschrieben, als er seinen Anhängern im vergangenen Juni zuruft: "Jetzt ist ein Yoruba an der Reihe!" Sein wichtigster Herausforderer im Kampf ums Präsidentenamt, Atiku Abubakar, sieht das naturgemäß anders: "Die Menschen aus dem Norden brauchen keinen Yoruba-Kandidaten, keinen Igbo-Kandidaten", konstatiert er bei einer Veranstaltung.

Präsidentschaftswahlen in Nigeria haben seit jeher für Spannungen gesorgt und Ängste geschürt, von einer anderen ethnischen Gruppe regiert, dominiert oder marginalisiert zu werden. Mit über 200 Millionen Einwohnern ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas und gleichzeitig ein Vielvölkerstaat, in dem mehr als 500 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die größten und  politisch einflussreichsten Völker sind die überwiegend muslimischen Hausa-Fulani aus dem Norden, sowie die mehrheitlich christlichen Yoruba im Südwesten und Igbo im Südosten.

Machtkämpfe, Aufstände, Militärputsche

Vor der Kolonialzeit befanden sich auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Nigeria zahlreiche Königreiche und Staaten. Im 19. Jahrhundert brachten britische Kolonialisten immer mehr von ihnen unter Kontrolle. Sie bildeten die Protektorate Südnigeria und Nordnigeria, aus denen 1914 eine gemeinsame Kolonie entstand. Gleichzeitig förderte die britische Kolonialverwaltung bestehende Herrschaftsstrukturen und ethnische Zugehörigkeiten und machte sie sich im Sinne von "teile und herrsche" zunutze.

Als die Briten Nigeria 1960 in die Unabhängigkeit entließen, waren die Gräben zwischen Yoruba, Ibo und Hausa-Fulani bereits tief. Die Machtkämpfe der politischen Eliten führten zu blutigen Aufständen und mehreren Militärputschen. Politiker beriefen sich auf ethnische und religiöse Zugehörigkeiten, um ihre Anhänger zu mobilisieren. "Die politischen Eliten haben sich stets stark für ihre jeweiligen Heimatregionen eingesetzt. Der Staat wurde deshalb nie als Beschützer des nigerianischen Volkes wahrgenommen", sagte Rahamatu Lawal, Politikwissenschaftlerin an der Ahmadu Bello Universität, der DW.

Ölförderung und Separatisten im Süden

Dabei sind es große soziale Ungleichheit, Armut und mangelnde Zukunftsperspektiven, die zu Spannungen führen. Sie tragen dazu bei, dass das Land immer wieder von gewalttätigen Auseinandersetzungen erschüttert wird.

Zum Beispiel im Niger-Delta: Als dort Mitte des 20. Jahrhunderts Erdöl entdeckt wird, kommt es zu Konflikten zwischen verschiedenen Ethnien. Die Ölförderung verursacht gravierende Umweltschäden. Da die Menschen vor Ort nicht von den Gewinnen profitieren, bilden sich Milizen. Sie zerstören Pipelines und verüben Anschläge auf internationale Unternehmen.

Nigeria IPOB Mitglieder
Im Südosten Nigerias erstarkt die IPOB-Bewegung, die sich für ein unabhängiges Biafra einsetztBild: STEFAN HEUNIS/AFP/Getty Images

Im Südosten Nigerias, wo vor allem Igbo leben, setzen sich separatistische Gruppen für die Unabhängigkeit der Provinz Biafra ein. Ähnliche Bestrebungen hatten Ende der 1960er Jahre zu einem fast drei Jahre andauernden Bürgerkrieg geführt. Seit einigen Jahren herrscht wieder ein niederschwelliger gewalttätiger Konflikt zwischen Separatisten und  Zentralregierung. Am ersten Februar dieses Jahres griffen Bewaffnete ein Wahlbüro und eine Polizeistation in Südost-Nigeria an, töteten einen Teenager und zerstörten unter anderem hunderte Urnen und Wahlkabinen. Ende Januar köpften Aufständische einen Regierungsvertreter und konstatierten, dass in der Region keine Wahlen stattfinden würden.

Auch wenn Gewalt die Ausnahme ist: Die Igbo sind mit der Regierung, die ein Präsident aus dem Norden anführt, sehr unzufrieden. "Der aktuelle Präsident konnte die Probleme der Menschen in seiner achtjährigen Regierungszeit nicht lösen", sagt Friday Nwankwo Ndubuisi, der an der Universität Lagos über Ethnizität in der Politik forscht. "Noch nie kam ein Präsident aus dem Südosten. Die Menschen wollen einen Präsidenten aus ihrer Region."

Landkonflikte und Islamisten im Norden

Auch im Norden Nigerias, der Hochburg von Präsident Muhammahu Buhari, sind viele Menschen enttäuscht. Entgegen seinen Versprechen ist es ihm nicht gelungen, für Sicherheit zu sorgen: Im Nordosten verüben islamistische Gruppen wie Boko Haram immer wieder Terroranschläge. Rund drei Millionen Menschen flohen bislang aus ihren Dörfern. Auch im Nordwesten Nigerias ist die Sicherheitslage angespannt – hier sind bewaffnete Überfälle und Entführungen zu einem profitablen Geschäftsmodell von Kriminellen geworden.

In Zentralnigeria flammen immer wieder ethnisch-religiös geprägte und zunehmend gewaltsame Konflikte um die Nutzung von Grund und Boden auf: Muslimische Hirten stehen vorwiegend christlichen Farmern gegenüber. Die fortschreitende Wüstenbildung im Norden des Landes, das Bevölkerungswachstum und die angespannte wirtschaftliche Lage verschärfen den Konflikt.

Ebenfalls im Zentrum des Landes, im Plateau State, schwelen alte Konflikte zwischen alteingesessenen christlichen Ethnien und zugezogenen muslimischen Ethnien aus dem weiteren Norden.

Wer kann Nigeria einen?

Inzwischen sind die großen politischen Parteien in Nigeria ethnisch und religiös durchmischt. Um Spannungen entgegenzuwirken, stellten sie in der Vergangenheit abwechselnd Präsidentschaftskandidaten aus dem überwiegend christlichen Süden und dem vorwiegend muslimischen Norden auf. Seit einigen Jahren wird dieses Prinzip jedoch nicht mehr vollständig beachtet: Bola Tinubu, der für die Regierungspartei APC des muslimischen Präsidenten Buhari ins Rennen geht, stammt zwar aus dem Süden, ist aber ebenfalls Muslim. Würde sein Herausforderer Atiku Abubakar von der PDP-Partei gewinnen, wäre erneut ein Muslim aus dem Norden Staatsoberhaupt. Allein mit Peter Obi, dem dritten aussichtsreichen Kandidaten, würde turnusmäßig ein Christ aus dem Süden folgen.

"Das Land wird nur vorankommen, wenn sich der Präsident als Vertreter aller Bürger versteht. Nur das wird Nigeria einen können", sagt Wissenschaftler Ndubuisu zur DW.

Alle aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten haben bereits wichtige politische Ämter bekleidet. Viele Nigerianer schauen deshalb diesmal weniger auf die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit der Kandidaten, sondern darauf, was sie in ihrer bisherigen politischen Laufbahn erreicht haben. Die wirtschaftliche Lage in Nigeria ist prekär, die Sicherheitslage ebenfalls. Die Menschen sehnen sich nach einem Präsidenten, der sich ernsthaft ihrer Probleme annimmt.