Entscheidung auf den letzten Drücker
15. März 2017Der Hauptbahnhof von Utrecht gleicht schon frühmorgens einem wuselnden Ameisenhaufen. Viele Pendler holen sich beim Supermarkt Albert Heijn schnell noch ein "broodje" oder einen "koffie", und dann geht's in den Zug, nach Amsterdam, Amersfoort oder Hilversum zur Arbeit. Heute müssen sich viele noch mehr beeilen, wenn sie vor der Arbeit wählen wollen. Auf der ersten Etage des Bahnhofs gibt es ein Wahllokal, das seit 7.00 Uhr geöffnet hat. Um kurz vor acht ist die Schlange schon so lang, dass man eine halbe Stunde warten muss.
Die Niederländer stimmen mit einem roten Buntstift ab, das Kästchen neben dem Namen des Kandidaten muss ausgemalt werden. Wenn die Wahllokale um 21 Uhr schließen, werden die Stimmen von Hand ausgezählt. Das alles aus Angst vor Hackerangriffen: Die bisher bei Wahlen eingesetzte Software war zu anfällig für Manipulationen, und über den Wahlergebnissen soll nicht der Schatten eines Zweifels schweben.
Rote Rosen fürs Wählen
Lies Vellekoop steht mit einem Strauß roter Rosen und einem Packen Flyer in der Bahnhofshalle. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied in der PvdA, der Partij van de Arbeid, einer der etablierten Parteien und voraussichtlich einer der großen Verliererinnen heute. Holte sie 2012 noch 38 von 150 Sitzen, werden es dieses Mal wohl nur um die zehn werden. Fast die Hälfte der Wähler sind aber noch „zwevende", Unentschlossene, bis sie in der Kabine stehen. Die will Lies Vellekoop noch überzeugen, für die PvdA zu stimmen. In den letzten vier Jahren saß die Partei zwar mit in der Regierung, doch ihre Erfolge, meint Vellekoop, wurden nicht wahrgenommen. Über den Erfolg - oder besser: Misserfolg - der PvdA macht sie sich keine Illusionen, "aber ich hoffe", sagt sie, "auf eine Koalition aus fünf linken Parteien, die dann die Regierung bilden könnten".
Guislaine, die lieber ohne Nachnamen bleibt, weiß schon lange, wofür ihr Herz schlägt: die Partij voor de Dieren (Partei für die Tiere), die laut Umfragen auf 4 bis 5 Sitze kommen könnte. Das ist eine der kleinen Parteien, die in dem unübersichtlichen Gewirr von 27 Parteien, die zur Wahl antreten, zulegen konnte. Am wichtigsten ist Guislaine aber, dass die rechtspopulistische PVV, mit der keine der anderen Parteien koalieren will, möglichst wenig Erfolg hat.
Links-grüner Shooting-star Jesse Klaver
Auf der Großbaustelle am Domplein, im Zentrum der historischen Utrechter Altstadt, haben die Bauarbeiter inzwischen ihr Radio auf volle Lautstärke gedreht und lauschen bei der Arbeit den Berichten vom Wahltag. Gestern abend noch hatte die letzte große Fernsehdebatte stattgefunden, alle großen und einige der vielen kleinen Parteien gingen in den Ring. Heute morgen lieferten die Kommentatoren ihr Urteil: Lodewijk Asscher, der Chef der PvdA, habe im Duell mit Geert Wilders endlich das Feuer gezeigt, dass er schon im ganzen Wahlkampf hätte an den Tag legen sollen. Sijbrand Buma von den Christdemokraten, eigentlich bekannt für einen Humor, so trocken wie die Wüste, der auch als "Bumor" bezeichnet wird, sah mit einem alten Witz gegenüber D66-Chef Pechtold, der sich gerne als neuer starker Mann der Mitte präsentiert, nicht gut aus. Gut sieht dagegen Jesse, oder auch "Jessias" Klaver aus, Spitzenkandidat von GroenLinks und einer der Shooting-stars der Wahlen. Zu seinen Events pilgerten sogar Niederländer, die gar nicht für seine Partei stimmen, nur um "die Show" zu sehen. Er könnte heute 20 Sitze erreichen und sogar Geert Wilders PVV schlagen.
Wer in Utrecht stilvoll wählen möchte, der geht ins Rathaus. Unter den Kronleuchtern dort hat auch Daan Giesen gestimmt. Wofür, verrät er nicht, aber er will auf jeden Fall, dass die Niederlande in der EU bleiben und ihren wirtschaftlichen Erfolg weiter ausbauen – "einen Nexit", sagt er, wie Geert Wilders ihn will, "darf es auf keinen Fall geben". Die Ökonomie war für ihn der wichtigste Aspekt bei den Wahlen, und mit dem Wahlkampf war er ganz zufrieden. Die Debatte wurde in weiten Teilen bestimmt von der Frage nach Einwanderung und niederländischer Identität, von Sicherheit, von der Forderung, das Rentenalter wieder auf 65 Jahre herabzusetzen und der staatlichen Subventionierung von Wohneigentum durch Steuererleichterungen. Für junge Wähler war nur wenig Ansprechendes dabei.
Mit dem "Stembus" zur Wahlurne
Laut statistischem Büro der Niederlande gingen bei den letzten Wahlen 2012 beinahe ein Drittel der Jungen nicht wählen. Dagegen tritt die Initiative "Stembus" (Wahl-Bus) an, die von ein paar Twitterern rund um Tim Hofmann vom Jugendsender BNN gegründet wurde. Auch Lisa Konings gehört dazu. Mit 19 darf sie zum erstenmal wählen und will auch ihren Altersgenossen einen Schubs geben. Alles entstand aus einem Tweet mit der Frage "Wer macht mit bei einer Initiative, mit der mehr Junge zum Wählen bewegt werden sollen?"
Darauf hat auch Konings reagiert. "Und augenblicklich saß ich dann in einer Whatsapp-Gruppe mit acht anderen, die was organisieren wollten, ohne zu wissen, was", erzählt sie. Dabei prasselten schon die Presseanfragen auf das kleine Team ein. Ziemlich rasch sorgte der Jugendsender BNN dann für die Finanzierung eines Busses, der an Hochschulen und andere Orte fuhr, wo junge Leute anzutreffen waren, und für die Wahlen warb. Vergangene Woche wurde daraus sogar ein "Stemtrein", ein Wahlzug, in den sogar die Spitzenkandidaten der großen Parteien einstiegen und Rede und Antwort standen. "Stembus" will aber keine Eintagsfliege bei den Wahlen 2017 sein. Neben dem Wahlaufruf an Junge hat "Stembus" nämlich auch noch die Aktion "Ik neem vrij" (Ich nehme frei) gestartet. "In anderen Ländern", erklärt Lisa Konings, "wird zum Beispiel am Sonntag gewählt, wenn alle frei haben. Bei uns sind die Wahlen immer an einem Werktag. Dabei sollte man am Wahltag innehalten und die Demokratie feiern", meint sie. Schließlich gebe es nur ein paar Dutzend Demokratien auf der Welt mit echten freien Wahlen. "Das uns das kurzfristig nicht gelingen wird, wissen wir", meint die 19-Jährige. "Aber vielleicht bei den Wahlen 2021 oder 2025."