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Nichts ist normal in Bagdad

Peter Philipp1. September 2005

Die Pilger-Tragödie im Irak wirft ein bezeichnendes Licht auf die Probleme des Landes. Peter Philipp kommentiert.

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Was nützt dem Irak die beste Verfassung, solange das Land sich in dieser Verfassung befindet: Wochenlang streitet man sich über Macht und Einfluss, über den Schutz alter Privilegien, eine gerechte Verteilung der Ölreichtümer und den Einfluss von Religion auf Staat und Gesellschaft. Und in den Straßen geht das tägliche Morden weiter: Aufständische gegen Amerikaner und Vertreter der Regierung, natürlich auch umgekehrt. Oder Terroristen gegen einfache Bürger. Die Täter suchen schon längst keine Begründung mehr für ihr Tun, eine Entschuldigung gibt es dafür ohnehin nicht. Und nun dies: Hunderte von Menschen sterben in der Panik, die das Gerücht auslöst, Selbstmordattentäter hätten sich unter Pilger gemischt, die zu Hunderttausenden zur Bagdader Kadamieh-Moschee ziehen.

Ein tragischer Unfall - bedauern Sprecher der Regierung. Nicht aber Terror, auch kein Verschulden der Regierung. Und verhängen drei Tage Staatstrauer. Kaum eine adäquate Antwort auf das Chaos am Tigris. Kann sich jemand zufrieden zurücklehnen mit dem Gedanken, gegen dieses Massensterben sei man ähnlich machtlos wie gegen eine Naturkatastrophe? Sind Panik und Hysterie vergleichbar mit einem Tsunami oder einem Wirbelsturm? Oder sind sie nicht eher Ausdruck und Produkt eben des Terrors, dem die Iraker tagtäglich ausgesetzt sind?

Die Bevölkerung wird terrorisiert, sie wird verunsichert und reagiert irrational und unkontrolliert auf Gerüchte und Verdachtsmomente. So weit hat es der Terror bereits gebracht: Man braucht keine Bomben mehr, die Opfer trampeln einander selber tot.

Solches völlig zu verhindern, ist vermutlich unmöglich. Aber die Gefahr sollte doch verringert und der Schutz der Bevölkerung erhöht werden. Und dazu müssten endlich klare Beschlüsse gefasst werden: An erster Stelle müsste Schluss gemacht werden mit der Fiktion, dass immer dann, wenn nicht gerade Bomben explodieren, das Leben in Bagdad normal sei. Nichts ist "normal" in Bagdad.

Und deswegen sollte - ja muss - man auf Massenversammlungen und -Pilgerfahrten verzichten. Das hat nichts mit religiöser Diskriminierung zu tun, sondern nur mit dem Schutz der Zivilbevölkerung. Im vergangenen Jahr 2004 waren bereits Hunderte bei Pilgerfahrten umgebracht worden und auch diesmal schossen Terroristen auf die Pilger in der Nähe der Kadamieh-Moschee. Sieben Menschen kamen dabei um, Hunderte aber ohne direktes terroristisches Zutun wenig später auf der Tigris-Brücke.

Die irakische Regierung und auch die US-Regierung müssen endlich aufhören, von vermeintlichen Fortschritten zu sprechen. Sie sollten den Ausnahmezustand verhängen. Und damit der Realität entsprechen. Vor dem, was sich am Mittwoch in Bagdad ereignete, verliert alles andere an Bedeutung. Auch der erbitterte Streit um die neue Verfassung.