Nicaragua und die Reste der Revolution
7. November 2016Dass er im Amt bestätigt würde, daran zweifelte niemand. Aber wie viele Nicaraguaner den alten und neuen Präsidenten Daniel Ortega nun tatsächlich gewählt haben und wie viele überhaupt abgestimmt haben - darüber wird am Tag nach dem Urnengang erbittert gestritten. Die Gründe für den Streit liegen auf der Hand: Die Legitimität des Amtsinhabers hängt nicht zuletzt an der Zahl derer, die überhaupt zur Wahl gingen. Die oberste Wahlbehörde legte nun eine Angabe dazu vor: 65 Prozent der Wahlberechtigten, erklärte sie, hätten am Sonntag ihre Stimme abgegeben. Die Opposition hingegen, die die Bürger dazu aufgerufen hatte, die Stimmabgabe zu verweigern, kam auf ein ganz anderes Ergebnis: Rund 70 Prozent der Bürger wären ihrem Aufruf gefolgt und hätten nicht gewählt.
Daniel Ortega jedenfalls, seit 2006 im Präsidentenamt, dürfte sich bestätigt fühlen. Dass er wieder gewählt würde, dafür hatte er vor Monaten sorgen lassen: Im August hatte der Oberste Gerichtshof Ortegas einzig nennenswertem Rivalen, dem ehemaligen Zentralbankchef und Minister Eduardo Montealegre, die Führung des Partido Liberal Independiente (PLI – "Unabhängige Liberale Partei") entzogen. Damit schied Montealegre den Gesetzen des Landes zufolge als Präsidentschaftskandidat automatisch aus.
Die in sich zerstrittene Opposition schaffte es nicht, sich auf einen neuen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Als die Oberste Wahlbehörde bald darauf auch die 16 Parlamentsabgeordneten des PLI absetzte, die sich mit dem Entscheid des Gerichtshofes nicht abfinden wollten, war das Rennen für Ortega bereits so gut wie gelaufen. Der hatte es zudem abgelehnt, Wahlbeobachter in nennenswerter Zahl ins Land zu lassen.
Bevölkerung schätzt Sicherheit
Warum Ortega auf die Wahlen solchen Einfluss nimmt, ist rätselhaft. Der Präsident hat durchaus Anhänger im Land. Zwar gilt Nicaragua dem "World Factbook" der CIA zufolge als das ärmste Land Mittelamerikas. Das Pro-Kopf-Einkommen lag im Jahr bei geschätzt 5000 US-Dollar, ein knappes Drittel der Bevölkerung liegt unterhalb der Armutsgrenze. Und doch danken viele Bürger dem Präsidenten offenbar, dass er zumindest die grundlegende Lebensmittelversorgung sichert, gegen Banden- und Drogenkriminalität vorgeht und so für Sicherheit sorgt - ein im gewaltgeprägten Zentralamerika alles andere als selbstverständlicher Zustand.
Nun wird Ortega zum dritten Mal Präsident seines Landes. Und das, obwohl die Verfassung ihm gleich zweierlei Hindernisse in den Weg legt: Sie verbietet erstens, dass ein amtierender Präsident kandidiert. Zweitens sieht sie eine dritte Amtszeit für ein und dieselbe Person nicht vor. Ortega setzte sich darüber hinweg.
"Wir waren so naiv"
Auch darum hat der ehemalige Revolutionär und Anführer der Sandinisten, der 1979 den damaligen Diktator Anastasio Somoza stürzte, nach Ansicht ehemaliger Weggefährten seine politische Legitimität längst verloren. Sie werfen ihm vor, sich zusammen mit seiner Frau Rosario Mzurillo - Ortega hatte sie vor den Wahlen zur Kandidatin auf das Vizepräsidentenamt ernannt - das gesamte Land unterwerfen zu wollen. "Ortega und seine Frau bewegen sich in Richtung einer Einheitspartei", sagt der ehemalige Mit-Revolutionär, Minister und Schriftsteller Sergio Ramírez. Die beiden erfreuten sich einer in Nicaragua nie dagewesenen Machtfülle. "Und diese Macht wollen sie auf keinen Fall wieder abgeben", erklärt er gegenüber der spanischen Tageszeitung "El País".
Ähnlich sieht es die Schriftstellerin Gioconda Belli, auch sie in früheren Jahren eine Mitstreiterin Ortegas. Dieser habe zwar keine Diktatur begründet, wohl aber eine Art Absolutismus, "fast eine Monarchie", erklärt sie ebenfalls in "El País". "Wer hätte annehmen können, dass ein Kampfgenosse so enden würde? Wir waren so naiv", erregt sie sich.
Familienmitglieder an den Schalthebeln der Macht
Die Machtfülle nutzt Ortega, um Familienmitglieder in führenden politischen und ökonomischen Positionen zu installieren. Sein ältester Sohn Rafael wacht über das Ölgeschäft - und damit auch über die verbilligten Importe aus Venezuela, die umgehend und zu einem deutlich höheren Preis wieder in den Export gehen. "Kein Liter Benzin wird in Nicaragua verkauft, ohne dass die Präsidentenfamilie Profit daraus zieht", schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Weitere seiner Kinder stehen privaten sowie dem staatlichen Fernsehsender Canal 6 vor.
All dies scheint dem nach den sozialistischen Jahren wieder zum Katholizismus zurückgekehrten Präsidenten kein Kopfzerbrechen zu machen - ebenso wenig wie seiner als esoterisch teils verschrienen, teils verlachten Ehefrau, die bei ihren allwöchentlichen Vorträgen im nationalen Radio oft und gern von der "Gütigkeit der Seele, der Brüderlichkeit und dem universalen Licht" spricht. Legendär sind die metallenen "Lebensbäume", die sie im Land aufstellen lässt und mit denen sie, wie sie glaubt, der Bevölkerung eine Freude macht.
"Die Geschichte wiederholt sich"
Angesichts solcher Umstände, diagnostiziert die Zeitung "La voz de Nicaragua" ("Stimme Nicaraguas") nach der Wahl - der Kommentator selbst spricht von einer "Wahlfarce" – einen Rückfall des Landes in längst überwunden geglaubte Missstände. "Es wiederholt sich die Geschichte Anastasio Somozas. Die Namen sind andere, aber das Drehbuch ist dasselbe."
Ähnlich sieht es die Zeitung "la Prensa" ("Die Presse"). Sie spricht gar von einer "Diktatur" Ortegas. Zugleich macht sie ihren Lesern aber Mut: Absehbar werde das Ende Ortegas kommen, so wie damals auch das Ende Somozas gekommen sei.
Dazu beitragen könnten die USA. Das dortige Repräsentantenhaus hat vor einigen Wochen einen Gesetzesentwurf beschlossen. Der soll es ermöglichen, Nicaragua den Zugang zu internationalen Finanzquellen zu erschweren, sollte das Land keine ordnungsgemäßen Wahlen abhalten. Am Tag nach den Wahlen erinnert sich die Opposition dieses Gesetzes laut und vernehmlich.