"Die EU sollte sich am Dialog beteiligen"
26. Mai 2018Deutsche Welle: Herr Ramírez, Nicaragua war lange Zeit aus den internationalen Schlagzeilen verschwunden. Die Wirtschaft entwickelte sich normal, und der Tourismus florierte. Doch mit einem Mal explodiert das Land wie ein Kessel, der unter Druck steht. Was ist im vergangenen Monat passiert?
Sergio Ramírez: So etwas passiert, wenn man aus einer Fiktion erwacht. Die triste Realität wurde mit bunten Farben übertüncht und als Paradies ausgegeben. Das basierte auf wachsenden Wirtschaftsindikatoren und einer festen Allianz zwischen der Privatwirtschaft und der Regierung. Doch plötzlich platzte diese Blase, und der autoritäre Charakter des Regimes kam ans Licht. Es ist ein Regime, das die Menschenrechte nicht respektiert und alle Macht in den Händen eines Präsidentenehepaares konzentriert, ein Land, in dem auf allen Ebenen Korruption und Missbrauch herrschen. Die Bevölkerung hat dies lang still ertragen. Doch dann genügte nur ein Funke, um das Feuer zu entfachen, und dieser Funke war die Reform der Sozialversicherung. Nun gehen die Menschen mit ihrer lange unterdrückten Forderung nach einem demokratischen Wandel auf die Straße.
Bis zum April 2018 gab es aber einen klaren Unterschied zwischen der derzeitigen Regierung Nicaraguas und der vergangenen Diktatur des Generals Somoza: die blutige Repression. Wie wurde diese rote Linie überschritten?
Die Generation der Nicaraguaner, die sich noch an die 70er und 80er Jahre erinnert, verbindet Somoza mit blutrünstigen Repressalien. Junge Menschen wurden ermordet, weil ihre Jugend sie verdächtig machte. Ein Jugendlicher konnte ja Mitglied der Guerilla sein. Und heute sehen wir, wie die Sicherheitskräfte wahllos gegen jugendliche Demonstranten vorgehen. Laut einem Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) sind bisher 76 Menschen umgekommen, die meisten von ihnen unter 30 Jahre alt. Viele der Opfer starben an gezielten Kopfschüssen oder Schüssen ins Herz. Das ist das Werk von Profis.
Der Bericht der Kommission ist verheerend. Die Dialogrunde unter der Leitung der katholischen Kirche will die Empfehlungen des CIDH umsetzen. Aber ist das realistisch?
Der selbe Bericht der CIDH schlägt einen internationalen Mechanismus vor, um die 16 Empfehlungen umzusetzen, da alle entsprechenden Institutionen Nicaraguas vollkommen in Misskredit geraten sind. Sie sind alle dem Präsidentenpaar treu ergeben. Und deswegen müssen Präsident Daniel Ortega und seine Frau, Vizepräsidentin Rosario Murillo, zurücktreten, oder ihre Amtszeit muss zumindest stark verkürzt werden. Laut einer aktuellen Gallup-Umfrage fordern 70 Prozent der Nicaraguaner den Rücktritt von Ortega und seiner Frau.
Welches internationale Organ könnte sich denn noch an dieser Dialogrunde beteiligen? Die OAS unter der Leitung des Uruguayers Luis Almargo hat unter den Nicaraguanern viel Glaubwürdigkeit eingebüßt. Almargo zeigte sich in der Vergangenheit standfest gegenüber Venezuela, aber recht nachsichtig gegenüber Ortega.
Die UNO, die Europäische Union oder eine Kommission, bestehend aus mehreren Ländern, sollten sich beteiligen. Ich war immer schon gegen eine Einmischung von außen in die internen Angelegenheiten Nicaraguas, aber hier geht es jetzt nicht um politische Fragen, sondern um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die CIDH spricht von außergerichtlichen Hinrichtungen. Solche Dinge gehen weit über die Grenzen hinaus, die durch nationale Souveränität gedeckt sind.
Sie kennen Daniel Ortega seit seiner Jugend. Hatte er früher schon Anzeichen seines derzeitigen Caudillo-Stils erkennen lassen?
Nein. Die Mechanismen der Macht in den 80er Jahren waren anders. Es gab damals eine Partei mit einer kollektiven Führung. Da gab es keinen Raum für Caudillismus. Ich sage nicht, dass das Modell der 80er Jahre eine Demokratie war. Die Revolution schob damals die Demokratie zur Seite, weil sie blind an die wirtschaftliche und soziale Transformation glaubte. Aber immerhin hatte sie das konkrete Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Heute geht es nur noch darum, die Herrschaft des Präsidentenpaares zu verlängern.
Sie haben einige Jahre in Deutschland gelebt. Gerade in Deutschland gab es viel Solidarität mit der Revolution in Nicaragua, und viele Deutsche zeigen sich enttäuscht über die Entwicklung in ihrem Land.
Ja, das tut mir sehr weh. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa gab es zahllose Solidaritätsnetzwerke. Allein in Deutschland gab es 400 Solidaritätskomitees, die sehr effektiv waren. Ich hoffe, dass die Demokratie ohne weiteres Blutvergießen nach Nicaragua zurückkehrt. Und ich hoffe, dass die solidarische Aufmerksamkeit der Welt weiterhin auf Nicaragua gerichtet ist.
Der nicaraguanische Essayist und Romanautor Sergio Ramírez war nach dem Sturz der Diktatur 1979 Mitglied der fünfköpfigen Regierungsjunta und von 1984 bis 1990 Vizepräsident. 1995 hat er die Partei Movimiento de Renovación Sandinista mitgegründet, da er den Kurs des früheren (und seit 2006 erneut amtierenden) Präsidenten Daniel Ortega als dogmatisch ablehnt. Ramírez war Gastprofessor in Berlin, Washington und Los Angeles. 2017 wurde er mit dem Cervantespreis ausgezeichnet.
Das Gespräch führte Maria Santacecilia.