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Neue Linke an der Macht

Mirjam Gehrke5. Dezember 2006

Nach einem Superwahljahr wird die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder von einem breiten Spektrum linksorientierter Parteien regiert. Ihre größte Herausforderung ist die Bekämpfung der sozialen Probleme.

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Hugo Chavez spricht in ein Mikrofon
Mit der Wahl von Chavez zum Präsidenten Venezuelas begann 1998 der Linksruck des KontinentsBild: AP

Lateinamerika hat einen wahren Wahlmarathon hinter sich: in 12 Ländern der Region sind seit Ende 2005 neue Präsidenten und Parlamente gewählt worden - und die meisten Völker haben sich für "linke" Kandidaten entschieden. Die politische Landkarte zwischen Mexiko und Feuerland hat sich größtenteils rot eingefärbt.

Es ist eine neue Linke an die Macht gekommen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr ideologisch an Moskau oder China orientiert. Ihre Wurzeln liegen vielmehr in der weit verbreiteten sozialen und politischen Unzufriedenheit einer großen Bevölkerungsmehrheit. Doch auch wenn in vielen Ländern die Ausgangslage ähnlich ist, so kann man nicht von einer einheitlichen Linken mit einer geschlossenen Ideologie reden. Es handelt sich um soziale Bewegungen, Parteien und Gruppierungen des linken Lagers in den jeweiligen Ländern, aber sie vertreten nicht die gleichen Ideen oder die gleichen Regierungsprogramme.

Breites Spektrum von Tiefrot bis Hellrosa

Und sie haben auch keine gemeinsame Geschichte. Die in Chile regierenden Sozialisten, wie auch ihr Koalitionspartner, die Christdemokraten, blicken auf eine über hundertjährige Tradition als Volkspartei zurück. In Uruguay hingegen ist mit Präsident Tabaré Vásquez zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte des Landes die Linke an die Macht gekommen. Ganz anders ist die Situation in Venezuela. Dort regiert mit Hugo Chávez ein ehemaliger Militär, das heißt er kommt aus einer ganz anderen Institution und hat keine parteipolitische Vergangenheit. Ein weiteres Beispiel ist Evo Morales, der als Gewerkschafter der Zivilgesellschaft entstammt und durch die Mobilisierung von sozialen Bewegungen an die Regierung gekommen ist.

Boliviens Präsident Morales und Chiles Präsident Lagos winken der Presse zu
Boliviens Präsident Morales (r.) nach seiner Wahl im Januar 2006 zusammen mit Chiles Präsident LagosBild: AP

So unterschiedlich wie die Strukturen und Wurzeln der regierenden Linken in Lateinamerika ist auch ihre politische Ausrichtung, die von tief rot bis zu einem hellen rosa reicht, meint Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Auf der einen Seite sieht sie die eher gemäßigten, sozialdemokratisch und marktwirtschaftlich orientierten Länder wie Chile, Argentinien, Brasilien und Uruguay: "Andererseits gibt es eine andere Linke, die etwas radikaler ist, oder populistischer sogar, vertreten durch Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien." Ebenfalls dazu zählen der neue ecuadorianische Präsident Rafael Correa und der einstige nicaraguanische Revolutionsführer Daniel Ortega, der nach vier Versuchen und einer Verfassungsänderung Anfang November die Präsidentschaftswahl mit nur 35 Prozent der Stimmen gewonnen hat.

Soziale Probleme sind größte Herausforderung

Eine der größten Herausforderungen für die Regierungen der Region liegt in den sozialen Spannungen. Das Ende der Ära der Militär-Diktaturen hat nicht zu einer Verbesserung der sozialen Verhältnisse in Lateinamerika geführt. In den 1990-er Jahren hatten sich die neuen demokratischen Regierungen der Region an den so genannten "Konsens von Washington" gehalten, der eine neoliberale Politik der Privatisierung, Senkung von öffentlichen Ausgaben und Deregulierung von Märkten als Mittel zur Armutsbekämpfung empfahl.

Die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gepredigten Rezepte sind gescheitert: Von den 550 Millionen Lateinamerikanern gelten 220 Millionen als arm, und 100 Millionen Menschen zwischen Mexiko und Feuerland verfügen über weniger als einen Dollar täglich zum Überleben. Lateinamerika ist die Region mit der höchsten Einkommens-Ungleichverteilung weltweit. Mit Armutsbekämpfung allein, so Claudia Zilla, ist es nicht getan: "Wir haben in den 1990-er Jahren Erfahrung in bestimmten Ländern gemacht, wo sogar Armut reduziert werden konnte, wie zum Beispiel in Chile. Dort konnte die Armut halbiert werden, allerdings ist die soziale Ungleichheit gestiegen."

Mehr Wachstum - mehr Ungleichheit

Eine Front von Bretterbuden in einer Armutssiedlung (Favela) in Sao Paulo in Brasilien.
Favelas in Sao Paulo: Soziale Probleme sind die größte Herausforderung für die neue Linke in Lateinamerika (Archivbild)Bild: dpa

Der weltweite Rohstoffboom und vor allem die wachsende Nachfrage aus China haben zwar durchschnittlich zu Wachstumsraten von 4 bis 5 Prozent in der Region geführt. Auch das Pro-Kopf-Einkommen hat in den letzten Jahren zugenommen und die offizielle Arbeitslosigkeit sinkt. Doch diese statistischen Daten sagen nichts über den Zustand der Sozialsysteme in den Ländern aus. Es ist zu wenig in Bildung und Gesundheit investiert worden. Allerdings habe man auch aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, sagt Zilla: "Alle versuchen, die fiskalische Disziplin einzuhalten und nicht mehr auszugeben als das, was sie über Steuern einnehmen. Allerdings gibt es bestimmte Politiken, die darauf ausgerichtet sind, mehr Investition oder Industrialisierung zu fördern, und andere, die stärker auf Umverteilung ausgerichtet sind, wie zum Beispiel Venezuela."

Der Linksruck Lateinamerikas hat bereits Ende der 1990-er Jahre begonnen, mit der ersten Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas. Es folgten der Sozialist Ricardo Lagos in Chile, der Arbeiterführer Lula da Silva in Brasilien, Néstor Kirchner in Argentinien. Doch erst im Superwahljahr 2006 hat die Weltöffentlichkeit Notiz von der politischen Entwicklung auf dem Kontinent genommen. Für Claudia Zilla liegt darin auch eine Chance für die Region: "Lateinamerika steht nicht mehr im Mittelpunkt des Blickfeldes der USA und Europas. Europa ist mit der EU-Erweiterung beschäftigt, und es ist verständlich, dass Osteuropa oder die Nachbarländer eine Priorität darstellen. Die USA haben nach dem 11. September 2001 andere Themen auf der Agenda. Und solange Lateinamerika eine relativ friedliche Region bleibt, wird es auch nicht oben auf der Agenda stehen."