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Neuanfang mit vielen Fragezeichen

Rüdiger Siebert / (kas)15. April 2002

Ost-Timor ist auf dem Weg zur staatlichen Selbstständigkeit. Damit wird in der Geschichte der Auflösung der großen Kolonialreiche eines der letzten Kapitel aufgeschlagen.

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Präsidentsschaftswahl in Ost-Timor: eine weltpolitische PremiereBild: AP

Der Wind der Veränderung, der zur Mitte des vorigen Jahrhunderts über Südasien und Afrika fegte und eine Vielzahl neuer Staaten hervorbrachte, weht nun über eine kleine Insel zwischen Indischem und Pazifischen Ozean, genauer gesagt nur über eine Inselhälfte: Ost-Timor. Am 14. April war die Bevölkerung aufgerufen, einen Präsidenten zu wählen. Am 20. Mai wird die staatliche Selbständigkeit proklamiert. Unter dem Namen Timor Lorosae reiht sich das jüngste Mitglied in die internationale Staatengemeinschaft ein. Ein Name, der hoffnungsvollen Neubeginn verheißen soll. In der Landessprache Tetum bedeutet er "Aufgehende Sonne".

Die Dimension der neuen Republik nimmt sich im Vergleich zu den meisten Staatsgründungen aus der Konkursmasse des Kolonialmus bescheiden aus. Doch an Dramatik und menschlichem Leid auf dem langen und opferreichen Weg zur Eigenständigkeit steht Ost-Timor ganz in der blutigen Tradition der Freiheitskämpfe. Timor Lorosae ist mit seinen knapp 19.000 Quadratkilometern so groß - oder so
klein - wie das deutsche Bundesland Schleswig-Holstein und hat etwa 800.000 Einwohner.

Die Kolonie

400 Jahre war Lissabon auf der größten der Kleinen Sunda-Inseln beherrschend gewesen. Portugiesische Dominikaner-Missionare hatten dort als erste Europäer Fuß gefaßt. Ab 1665 war Portugal auch durch einen Vertreter des Königshauses repräsentiert. Als die Holländer die südostasiatische Inselwelt für sich eroberten, wurde der
Konkurrent verdrängt. Nur auf Timor, der besonders abgelegenen und unbedeutenden Insel im Südosten des Archipels, konnte sich Portugal behaupten.

1859 erklärten die Holländer den westlichen Inselteil zum Hoheitsgebiet Niederländisch-Indiens. Die Grenze wurde festgeschrieben. Auch nachdem 1945 in Batavia/Jakarta die Unabhängigkeit Indonesiens proklamiert worden war, blieb die von europäischer Willkür vollzogene Teilung unangetastet.

Bis zum Sommer 1975 hatte es den Anschein, als könne sich die so genannte Überseeische Provinz Portugals aus jenem mörderischen Strudel heraushalten, der den Zusammenbruch des Lusitanischen Kolonialreiches kennzeichnete. Ende 1975 zogen sich Lissabons Statthalter jedoch fluchtartig aus Ost-Timor zurück. Indonesische Truppen füllten das Machtvakuum und besetzten die östliche Inselhälfte. Für die Menschen begannen mehr als zwei Jahrzehnte brutaler Unterdrückung.

Das Regime

Was von Jakartas Regierung mit Präsident Suharto und seinen Militärs heuchlerisch als "Bruderhilfe" gepriesen wurde, war ein gnadenloses Besatzungsregime. Jeglicher Widerstand wurde erstickt. Schätzungsweise 200.000 Menschen starben an Folgen der militärischen Anschläge, an Misswirtschaft, Hunger und Seuchen.

Der letzte Akt dieser Tragödie brachte Ost-Timor in die Schlagzeilen der Weltpresse. Interimspräsident Habibie leitete Anfang 1999 ein Referendum ein, das unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen das Tor zur nun in wenigen Wochen verwirklichten Unabhängigkeit aufstieß.

Im August 1999 votierten über 78 Prozent der Wahlberechtigen für den eigenen Staat - obwohl pro-indonesische Milizen mit massiver Unterstützung des indonesischen Militärs eine Atmosphäre von Angst und Schrecken geschaffen hatten, Massaker veranstalteten und Hunderttausende von Menschen als Flüchtlinge in die indonesische Westhälfte der Insel trieben. Mehr als tausend Menschen kamen um. Das indonesische Militär als menschenverachtender Machtapparat hatte sich in der Zeit nach Suharto ein weiteres Mal von seiner übelsten Seite gezeigt. Doch mit Gewalt war der in Gang gekommene Unabhängigkeits-Prozeß nicht mehr aufzuhalten.

Die Befreiung

Am 30. August 2001 fanden nach einer zweijährigen Übergangsphase unter UN-Verwaltung die ersten freien Wahlen in Ost-Timor statt. Dabei wurden über ein verfassungsgebendes Organ und das Prozedere der nun anstehenden Präsidentenwahl entschieden. Es war ein Einüben in Demokratie: 16 Parteien mit über 1.100 Kandidaten hatten sich beworben.

Die Fretilin, in deren Namen sich der Jahrzehnte währende Widerstand gegen die indonesische Besatzungsmacht formiert hatte, wurde mit 43 der 88 Sitze umfassenden Verfassungsgebenden Versammlung die stärkste Kraft. Das Gremium, in dem ein Dutzend Parteien vertreten sind, einigte sich mit 72 gegen 14 Stimmen auf eine Verfassung. Vorbild der völkerrechtlichen Grundlage des neuen Staates ist die Verfassung Portugals.

Die Wahl

Bei der Wahl am 14. April wird nun entschieden, mit welchem Mann an der Spitze der Weg in die Unabhängigkeit beschrittten werden soll.

Einer der Kandidaten ist Francisco Xavier do Amaral, der aus den Zeiten des Widerstandes eine gewisse Popularität besitzt.

Doch seine Chancen gelten als gering, denn der eigentliche Favorit für das Präsidentenamt verkörpert wie kein anderer die Hoffnung auf einen Neubeginn: Xanana Gusmao. Der 55jährige hat den Ruf eines charismatischen Führers. Er ist Jesuiten-Schüler, befehligte den Frelitin-Guerillakampf im Untergrund, schrieb Gedichte und ist zur Stimme des unabhängigen Ost-Timor geworden. Mehr als ein Jahrzehnt machte er mit seinen Rebellen den indonesischen Soldaten zu schaffen. Dann wurde er festgenommen und saß sechs Jahre in indonesischen Gefängnissen.

Jose Alexandre - Xanana - Gusmao
Alexandre" Xanana" GusmaoBild: AP

Xanana Gusmao könnte zu einem der letzten Prototypen jenes post-kolonialen Freiheitskämpfers werden, der aus der Haft ins höchste Amt des Staates gelangt. Die makabre Ironie der Geschichte: Genau denselben Aufstieg schaffte einst Indonesiens Gründungspräsident Sukarno, als er das Joch der holländischen Kolonialherren abschüttelte. Dass die neuen Herren in Jakarta ausgerechnet mit den Repressions-Methoden ihrer kolonialen Lehrmeister zu Unterdrückern in Ost-Timor wurden, gehört zu den düsteren Seiten der jüngeren Geschichte Indonesiens.

Die Aufgabe

Gusmao als möglicher Repräsentant des unabhängigen Ost-Timor hat eine doppelte Aufgabe zu bewältigen: Zum einen gilt es, einen funktionierenden Verwaltungsapparat aufzubauen und demokratische Strukturen zu festigen - wofür es keine historische Tradition gibt. Und zum anderen muss sich der Zwergen-Staat gegenüber den beiden Riesen-Nachbarn behaupten: Indonesien und Australien.

Gusmaos Reputation stammt aus den Zeiten des Untergrundkampfes. Ob er die Statur eines Politikers hat, der sich im internen und internationalen Machtgerangel durchzusetzen vermag und den Nachbarn standhaft Paroli bieten kann, muss er erst noch beweisen.

Nach nahezu fünf Jahrhunderten der Fremdbestimmung haben die Menschen Ost-Timors zum erstenmal die Chance, ihre Geschichte und ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Wahrlich eine weltpolitische Premiere, die das Interesse und die tatkräftige Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft verdient.