Luchino Visconti
29. April 2013Filmgeschichte muss immer wieder neu geschrieben werden. Lange galt das Debüt Viscontis "Ossessione" als erster Film des Neorealismus. Diese auf ästhetischen und thematischen Neuerungen basierende Filmströmung der 1940er Jahre wandte sich in Italien gegen die ausgetretenen Pfade des konventionellen und faschistisch geprägten Films. Ossessione spülte 1943 mit einem Schlag alles weg, was man bisdato im italienischen Kino gesehen hatte und was vom Regime Mussolinis gefördert wurde. Die neorealistischen Filme hatten dann auch großen Einfluss auf die europäische Kinogeschichte der folgenden Jahre.
Eine filmische Revolution
Erst später haben Kinohistoriker auch in anderen Ländern Filme ausgemacht, die zeitgleich oder schon vorher mit ähnlichen Mitteln arbeiteten wie Visconti. Es war also nicht "Ossessione" allein, der damals für eine filmische Revolution sorgte. Und beim Wiedersehen fällt auch auf, wie stark andere stilistische Merkmale schon im Debüt des später gefeierten Regisseurs Visconti sichtbar waren. Filmgeschichte schreiben ist ein fortlaufender Prozess. Wenn nun also drei frühe Werke des Meisters erstmal in Deutschland auf DVD zu sehen sind, ist das ein guter Grund, diese Filme wiederzusehen.
"Mich interessieren allein Extremsituationen und die Augenblicke, in denen eine außerordentliche Spannung die Wahrheit aus den Menschen hervorlockt. Ich liebe es, die Figuren einer Geschichte sowie ihren Inhalt hart und aggressiv anzugehen." Luchino Visconti wusste schon zu Beginn seiner Karriere sehr genau, was er (auch) wollte vom Kino: Emotionen, Melodrama, Schauwerte. Richtig ist aber auch, dass "Ossessione" das damalige italienische Kinopublikum schockierte. Die an faschistischem Prunk und an melodramatische Unterhaltungsfilme gewöhnten Zuschauer waren schockiert. als "Ossessione" erstmals auf großer Leinwand zu sehen war.
Ein Blick in das wahre Italien
"Viele der in Pelze gekleideten Frauen zitterten vor Schrecken und Entsetzen", berichtete Visconti nach der Premiere, einer Vorführung für ein ausgewähltes Publikum. Und den italienischen Machthabern in Rom war der Film auch nicht geheuer: Er wurde verboten, geschnitten, zensiert. Was war geschehen? Visconti hatte die Vorlage, den amerikanischen Kriminalroman "Die Rechnung ohne den Wirt" als Grundlage für eine düstere Liebesgeschichte genutzt, die im ärmlichen sozialen Milieu Norditaliens angesiedelt war. Eine heruntergekommene Tankstelle, verarmte Vorstädte, verdreckte und geschundene Menschen: "Ossessione" zeigte dem damaligen Publikum, wie es wirklich aussah in ihrer Heimat - fernab von herausgeputztem Studiodekor und Glitzerkulisse.
Das war ein Schock, kein Zweifel, auch für das nichtfaschistische Publikum. Der Film wirkte wie eine "Schocktherapie auf die Intellektuellen und rüttelte sie auf aus ihrer Anpassung in der kulturellen Provinzödnis", schreibt Martin Schlappner in einer Visconti-Monografie. und weiter: "Ein Drama der sexuellen Hörigkeit, aber auch, und das vor allem, der existenziellen Unruhe und Rebellion ... gegen die Wirklichkeit des faschistischen Films. 'Ossessione' war ein Akt des Widerstandes." Doch der Film zeigte noch eine Andere Seite des Regisseurs.
Besser als das Hollywood-Remake
Heute überzeugt der Film vor allem aufgrund seines erotischen Subtextes. Die nur anfangs problemlose Liebe zwischen einem Vagabunden und der Frau eines schmierigen Tankstellenbesitzers ist von intensiver Kraft und Spannung. Die Szenen ihrer Annäherung in den Anfangsminuten sind noch heute von ungeheurer Schönheit und Kraft (auch und gerade im Vergleich zum später inszenierten Hollywood-Remake mit Jack Nicholson und Jessica Lange "Wenn der Postmann zweimal klingelt").
Luchino Visconti zeigte schon in seinem Debüt viel von dem, was ihn Jahrzehnte später mit Filmen wie "Der Leopard" und "Ludwig II" noch berühmter machen sollte: eine Explosion der Gefühle auf der Leinwand, ein ständiges Gefühl von Ausweglosigkeit, einen Hang zum existenziellen Abgrund. Realismus und Melo sind somit in "Ossessione" gleichberechtigte Partner.
Gedreht nur mit Laien
Viscontis zweiter Film "Die Erde bebt", der jetzt ebenfalls erstmals in Deutschland auf DVD vorliegt, entspricht vielmehr den theoretischen Grundlagen des Neorealismus. Gedreht auf Sizilien ausschließlich mit Laien, den Bewohnern eines Fischerdorfes, erzählt Visconti hier die Geschichte eines Aufstandes der verarmten Fischerzunft. Doch "Die Erde bebt" sollte in seiner Radikalität, seinen dokumentarischen Gestus und dem fast völligen Verzicht auf herkömmliche Spielfilmdramaturgie eine Ausnahme im Werk des großen Italieners bleiben. Vom Realismus sollte sich Visconti später fast vollkommen abwenden.
Der DVD-Anbieter Studiocanal hat in seinem Label Arthaus eine Luchino Visconti-Edition mit sechs Filmen herausgebracht. Neben "Ossessione" und "Die Erde bebt" (1947) ist als dritte DVD-Premiere "Bellissima" aus dem Jahre 1951 enthalten. Außerdem: "Sehnsucht", "Rocco und seine Brüder" und "Ludwig II".