Netanjahu in Europa - Bilanz einer Reise
6. Juni 2018Schwang da etwas mit? Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärt: Wenn eine Seite entscheide, eine Vereinbarung aufzuheben, ermutige das die andere nicht, sie einzuhalten. Gemünzt war das auf die iranische Reaktion auf die Aufkündigung des Atomabkommens durch die USA.
Eine "ironische Spitze" meinte die französische Zeitung "Le Progrès" in der Äußerung zu erkennen - und verwies ganz nebenbei auf einen kleinen, aber doch entscheidenden Unterschied zu jenem Ton, den die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am Vortag gegenüber dem israelischen Premierminister gewählt hatte. Sie sprach ernst und verbindlich - wenngleich sie in der Sache sehr nahe bei Emmanuel Macron war.
Das bestätigte einmal mehr, was vorher schon feststand: Deutschland und Frankreich versuchen, vom iranischen Atomabkommen zu retten, was zu retten ist, nachdem US-Präsident Donald Trump es Anfang Mai aufgekündigt hatte. Benjamin Netanjahu war in Deutschland, Frankreich und England zu Gast. Alle drei Länder halten das Ende des Abkommens für einen Fehler.
Auch in anderen Punkten zeigten sich Differenzen, so etwa in der Debatte um die Verlegung der US-amerikanischen Botschaft aus Tel Aviv nach Jerusalem. In Berlin und Paris hält man zumindest den Zeitpunkt für ungeeignet. Die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland steht in weiten Teilen Europas ohnehin seit längerem in der Kritik.
Israel: "Konkrete Bedrohung"
Wie sind diese Differenzen zu bewerten? Deuten sie auf eine zunehmende Entfremdung zwischen Deutschland und Israel? Nein, meint der an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrende Historiker Daniel Mahla. Das Verhältnis sei weiter stabil, auch wenn es derzeit auf beiden Seiten unterschiedliche Einschätzungen gebe.
Selbst eine Reihe israelischer Sicherheitsexperten halten Netanjahus Iran-Atom-Politik für einen Fehler. Aber: "Insgesamt hat Benjamin Netanjahu in dieser Frage sehr starken Rückhalt in der israelischen Gesellschaft." Viele Menschen teilten die Befürchtung, der Iran könne insgeheim doch an einem Atomabkommen arbeiten. "Darum sind sie geneigt, Netanjahu in dieser Sache zu unterstützen."
Die unterschiedlichen politischen Positionen Jerusalems und seiner europäischen Gesprächspartner könnten sich aus der geographischen Lage ergeben, vermutet Mahla. "Israel ist natürlich in der konkreten Bedrohungssituation. Die Israelis können es sich nicht leisten, in dieser Sache einen Fehler zu machen. Deutschland sieht in der Urananreicherung zwar auch ein Risiko, wäre im Ernstfall aber nicht unmittelbar betroffen."
Merkel: "Iran von Israels Grenzen zurückdrängen"
Grundsätzlich, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, verstehe Deutschland aber die Sorgen Israels angesichts der Vordringens des Iran sowie der von Teheran unterstützten libanesischen Hisbollah-Miliz in Syrien. Deutschland werde alle diplomatischen Bemühungen unternehmen, "um Iran aus der grenznahen Region zu Israel zurückzudrängen", versicherte die deutsche Kanzlerin gegenüber ihrem israelischen Gast.
Am letzten Tage seiner Reise traf Netanjahu in London ein. Ein dringendes Anliegen war der englischen Premierministerin Theresa May die israelische Reaktion auf den Marsch der im Gazastreifen lebenden Palästinenser in Richtung der Grenze Mitte Mai. Dabei waren knapp 60 Menschen ums Leben gekommen, erschossen von israelischen Sicherheitskräften. "Wir waren betroffen vom Tod der Palästinenser", erklärte May dem israelischen Premier.
Ambivalente Gefühle
Die Beziehungen Deutschlands, Frankreichs und Englands zu Israel unterscheiden sich derzeit in einer ganzen Reihe politischer Positionen. Im Verhältnis zu Frankreich und Deutschland hat es solche Phasen aber auch früher schon gegeben, sagt Daniel Mahla. Er verweist etwa auf die Differenzen zwischen dem israelischen Premier Menachem Begin und dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmid in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren. Auch damals spielten sicherheitspolitische Erwägungen eine Rolle. "Dennoch hat das deutsch-israelische Verhältnis so etwas immer ausgehalten."
Netanjahus Reise sei verlaufen, wie man es zuvor vermutet habe, schreibt die konservative israelische Zeitung "Jerusalem Post". Dem Premier sei es vor allem darum gegangen, die Europäer dazu zu bewegen, Irans Einfluss in Syrien und anderen Regionen des Nahen Ostens einzudämmen. "Eben darum ist er nach Europa gereist." Mehr habe Netanjahu nicht gewollt. So verstanden, verlief die Reise ohne Überraschungen.
Die meisten Israelis dürften die Reise mit gemischten Gefühlen betrachten, erwartet hingegen Daniel Mahla. Mit Blick auf die Vergangenheit würden sie sich in ihrem jüngst ambivalenten Verhältnis zu Europa bestätigt fühlen. Viele Israelis verorteten die Wurzeln ihres Landes in Europa, auch schätzten sie die europäische Kultur. "Auf der anderen Seite ist Europa natürlich auch der Kontinent, auf dem der Holocaust und die Vernichtung der europäischen Juden stattfand, auf dem man sich wie auf keinem anderen Kontinent Verfolgung und Ermordung ausgesetzt sah."