Nebenkläger wollen NSU-Prozess politisieren
6. Mai 2013Durch ein neu in Kraft getretenes Opfergesetz gibt es erstmals ungewöhnlich viele Nebenkläger im Strafverfahren gegen die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). In einer Pressekonferenz am Sonntag (05.05.2013) kündigten die Anwälte der Nebenkläger an, dass die Angehörigen der Opfer den Prozess politisieren wollen und alles dafür tun werden, um die mögliche Verstrickung staatlicher Institutionen zu beleuchten.
"Uns geht es nicht um eine möglichst schnelle Verurteilung der fünf Angeklagten. Wir werden das staatliche Versagen zum Thema des Prozesses machen", kündigt Sebastian Scharmer an. Der Rechtsanwalt aus Berlin vertritt die Tochter des in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşik. Scharmer ist einer der anwaltlichen Vertreter von insgesamt 77 Nebenklägern, darunter die Angehörigen aller Mordopfer, die sich am Sonntag zu ihrer Prozesstaktik äußerten.
Staatliches Versagen und halbherzige Ermittlungen
Rechtsanwalt Scharmer ist fest davon überzeugt, dass der NSU nicht nur aus drei Rechtsradikalen bestand, sondern aus über 100 Personen, unter denen auch einige V-Leute des Verfassungsschutzes seien. Warum erfolgten nicht 1998 schon Festnahmen oder zumindest Fahndungsmaßnahmen gegen die drei den Behörden bekannten Mitglieder des NSU? Wie hat sich der NSU finanziert? Etwa durch V-Leute? Diese Fragen will Scharmer im Interesse der Angehörigen vor Gericht klären. "Wir dürfen in einem Strukturverfahren, und um ein solches handelt es sich bei diesem Strafprozess, diese Punkte thematisieren und erwarten auch vom vorsitzenden Richter die nötige Sensibilität, unseren Beweisanträgen stattzugeben", untermauert Scharmer seine Absichten.
Er will die gesetzlichen Möglichkeiten eines Strukturverfahrens voll ausschöpfen: "Da weder Ermittlungsbehörden noch parlamentarische Untersuchungsausschüsse die Tatumstände bisher umfassend aufklären konnten, werden nun wir dieses Ziel verfolgen." Scharmer kritisiert die Generalbundesanwaltschaft dafür, in der Anklageschrift überhaupt keine Bezüge zum Versagen der staatlichen Ermittlungsorgane herzustellen: "Wir hingegen verfügen über ausreichend Verdachtsmomente. Wir müssen mehr herausfinden, als in der Anklageschrift steht."
Auch Stephan Lucas, Rechtsanwalt aus München, hält prozessual viel mehr für möglich "als uns die Politiker glauben machen wollen". Mit dem am Montag (06.05.2013) beginnenden Verfahren würden die Uhren bei der Aufarbeitung der Mordserie wieder auf null gestellt. Für Lucas, der Sohn und Tochter des in Nürnberg ermordeten Enver Simşek vertritt, sind die zehn Morde "ein Angriff auf die bundesrepublikanische Ordnung". Nach dem Links-Terror der RAF hätten erstmals wieder Terroristen entschieden, "gegen unsere freiheitliche Grundordnung mit Gewalt vorzugehen". Lucas könne allerdings nicht verstehen, weshalb die Regierung diese Einschätzung nicht teile. "Liegt das daran, dass der Terrorismus diesmal eine schwache Bevölkerungsgruppe trifft, nämlich die Migranten, und keine Wirtschaftsbosse und Politiker?", fragt Lucas.
Strafrechtliche Konsequenzen für Behördenvertreter?
Der aus einer Fernsehserie landesweit bekannte Rechtsanwalt stellt auch fest, dass die Nebenkläger nicht nur Opfer des Mordes an ihren Familienmitgliedern wurden, sondern zudem der fehlgeleiteten behördlichen Ermittlungen, bei denen "Fahrlässigkeit oder Vorsatz wohlmöglich eine Rolle gespielt haben". Mit dieser drastischen Formulierung deutet Lucas an, dass eventuell einigen staatlichen Repräsentanten sogar strafrechtliche Konsequenzen drohen könnten.
Lucas hofft daher, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe reden wird. Seine Mandanten hätten ihm vor der Pressekonferenz gesagt, dies sei "das einzige, was diese Frau noch für uns tun kann. Wenn sie die Chance nutzen würde, zu reden, könnte sie viel zur Aufklärung der Rolle des Staates beitragen." Sollten solche Erkenntnisse mit in das Urteil einfließen, würde es für die Opfer-Angehörigen Rechtsfrieden schaffen.
Auch der Anwältin Angelika Lex geht es um eine umfassende Aufklärung. Sie vertritt die Witwe des in München ermordeten Griechen Theodoros Boulgarides. Er ist das einzige Mordopfer des NSU mit griechischer Staatsangehörigkeit. Lex will vor Gericht klären, warum gerade Boulgarides Opfer eines NSU-Mordanschlags wurde: "Warum wurde er ausgewählt? Wie wurde der Tatort ausgekundschaftet? Welche lokalen Unterstützer haben dabei geholfen? Hätte der Tod dieses Mannes verhindert werden können, wenn alle Behörden rechtzeitig korrekt ermittelt hätten, insbesondere der Verfassungsschutz?"
Verlorenes Vertrauen in den Rechtsstaat
Lex kritisiert, dass trotz der umfassenden jahrelangen polizeilichen Ermittlungen keine einzige Spur in die richtige Richtung verlaufen ist: in das rechtsradikale Milieu. "Dabei wurden schon 2002 in einer rechtsradikalen Zeitschrift 'Schöne Grüße an den NSU' veröffentlicht", erinnert sich Lex. Die Münchner Anwältin macht auch darauf aufmerksam, dass während der Ermittlungen massive Medienkampagnen gegen die Angehörigen der Opfer liefen, die dazu führten, dass Freunde und Familien sich zurückzogen, "weil niemand mit jemanden befreundet sein möchte, der mit dem kriminellen Milieu verbandelt ist." Die Folge dieser Kriminalisierungskampagne bedeutet für die Angehörigen einen erheblichen Vertrauensverlust in den Rechtsstaat. Mit dem Prozess soll dieses verloren gegangene Vertrauen wiedergewonnen werden. "Der Prozess kann das leisten", glaubt Lex. "Es ist die Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt umfassend aufzuklären."
Rechtsanwalt Schön, der bereits Opfer des rechtsradikalen Brandanschlags von Solingen vertreten hat, ist noch ein weiterer Punkt wichtig. Das Gericht solle bitte neu überdenken, ob es nicht einige der Angeklagten wieder in Untersuchungshaft nehme. Einer der Angeklagten, welcher der Beihilfe zu neun Morden angeklagt wird, befindet sich auf freiem Fuß. "Wäre jemand, der im Zusammenhang mit der RAF wegen Beihilfe in neun Morden angeklagt wäre, auf freiem Fuß? Hier wird mit zweierlei Maß gemessen", kritisiert Schön.
Niemand soll ausgeschlossen werden
Passenderweise luden die Anwälte in das Münchner Eine-Welt-Haus, den bekanntesten Treffpunkt der Stadt für interkulturelle und migrationspolitische Gruppen und Bewegungen. Da der ursprünglich vorgesehene Saal bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Medienkonferenz die vielen Journalisten und TV-Teams aus der ganzen Welt nicht mehr fassen konnte, zogen die Veranstalter spontan in einen größeren Saal um.
"Wir wollen im Gegenteil zum Gericht hier heute niemanden ausschließen", spielte einer der Anwälte auf die Ereignisse der letzten Wochen an, in denen sich herausstellte, dass der Münchner Schwurgerichtssaal nur 50 der 897 akkreditieren Medienvertreter fassen kann. Ein anderer Anwalt stellt fest, dass der Schwurgerichtssaal ein viel zu kleiner Raum sei für dieses Verfahren, "in den Sie schon einmal gar nicht reinkämen, wenn Sie alle kommen würden am Montag."
Doch wieviele Medienvertreter würden noch nach dem 20. Verhandlungstag im Saal sitzen?, fragt Reinhard Schön, Rechtsanwalt aus Köln, der sieben Geschädigte des Nagelbombenattentats in der Kölner Kolbstraße vertritt. "Immerhin haben wir es in diesem Prozess mit einer menschenverachtenden Mordserie zu tun, die ihresgleichen sucht", hebt Schön die Bedeutung dieses Prozesses hervor. Er richtet daher die inständige Bitte an alle Journalisten, nicht in den Medien einen Parallelprozess zu inszenieren. "Ich habe schon in anderen Fällen erlebt, dass mit nicht vor Gericht gefallenen Angaben aus anderen Quellen Medienberichte aufgebauscht wurden", warnt Schön.
Für den ersten Prozesstag erwartet Rechtsanwalt Scharmer ohnehin nur ein "Antragsgewitter". Dies ist aber ein normaler Vorgang und passt zur Wettervorhersage. Es soll regnen am Montag in München.