Streit über Syrien
19. April 2012Die Lage in Syrien wird von den NATO-Staaten und Russland völlig unterschiedlich beurteilt. Der russische Außenminister Sergej Lawrow, der nach Brüssel ins NATO-Hauptquartier gereist war, warf "ausländischen Kräften" vor, sie unterstützten die Opposition und Rebellen in Syrien. Lawrow ließ vor der Presse wenig Zweifel daran, dass mit diesen Kräften auch einzelne NATO-Staaten gemeint sind. Der russische Außenminister forderte die NATO-Staaten auf, ihren Einfluss auf die Opposition zu nutzen. Die Regierung von Präsident Assad sei nicht an allem Schuld. Diese Sichtweise sei zu einfach. Der Waffenstillstand müsse von beiden Seiten eingehalten werden, sagte Sergej Lawrow nach der Sitzung mit den NATO-Außenministern.
Ein ganz anderes Bild zeichnete die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton. Die US-Regierung sieht Syrien an einem entscheidenden Wendepunkt. Präsident Assad habe nur noch diese eine Chance den Friedensplan des UN-Beauftragten Kofi Annan umzusetzen. Ansonsten müsse man über zusätzliche Maßnahmen nachdenken, sagte die US-Außenministerin in Brüssel. Ohne Russland, das Syrien traditionell unterstützt, konkret zu nennen, machte Hillary Clinton deutlich, wer ihrer Meinung nach jetzt Einfluss nehmen müsse:
"Die Verantwortung trägt nicht nur das syrische Regime, sondern sie hat sich auch auf die verlagert, die Syrien unterstützen. Sie sind jetzt gezwungen zu erklären, warum die Gewalt immer noch weitergeht", so Hillary Clinton.
Mahnung an Assad
Bundesaußenminister Guido Westerwelle zeigte sich enttäuscht und beunruhigt von der andauernden Gewalt in Syrien. "Ich fordere von allen Seiten, insbesondere von der Regierung Assad, den Waffenstillstand endlich einzuhalten. Wir werden mit Russland über das weitere Vorgehen beraten. Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft angesichts der kritischen Lage in Syrien geschlossen bleibt. Das Assad-Regime muss wissen, dass es sich nicht ohne Wenn und Aber auf Russland oder andere Mächte verlassen kann, sondern dass wir gemeinsam für ein Ende der Gewalt eintreten." An einem Treffen der Außenminister, die sich als "Freunde Syriens'" sehen am Abend in Paris wird der russische Außenminister allerdings nicht teilnehmen. Die Einladung sei zu kurzfristig erfolgt, hieß es aus der russischen Delegation bei der NATO in Brüssel.
NATO will nicht eingreifen
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen stellte klar, dass die 28 NATO-Staaten eine militärische Operation in Syrien nicht planen oder auch nur erwägen. "Wir haben nicht die Absicht in Syrien einzugreifen. Wir erwägen nicht zu handeln", sagte Rasmussen. Die türkische Regierung hatte nach dem Beschuss türkischen Territoriums aus Syrien heraus, davon gesprochen, dass nicht nur die Türkei, sondern mit ihre die ganze NATO angegriffen wurde. Der Bündnisfall nach Artikel fünf des NATO-Vertrages sieht den gegenseitigen Beistand der Partnerstaaten im Falle eines Angriffs vor. NATO-Generalsekretär Rasmussen versicherte, dass natürlich jedes Sicherheitsproblem, das ein Mitgliedland vorbringe, besprochen und behandelt werde. "Aber bislang liegt uns kein Antrag vor", sagte Rasmussen auf entsprechende Fragen von Reportern. Die türkische Delegation bei der NATO macht bislang auch keine Anstalten, Artikel fünf des Vertrages zu aktivieren, hieß es von NATO-Diplomaten. Bislang hat die NATO nur ein einziges Mal, nämlich nach dem Angriff der Al-Kaida-Terroristen auf New York und Washington am 11. September 2011 den "Bündnisfall" festgestellt.
Clinton hat Verständnis für Türkei
Die NATO will die Lage an der syrisch-türkischen Grenze genau beobachten. US-Außenministerin Hillary Clinton erinnerte daran, dass die Türkei von der Lage in Syrien direkt betroffen sei. "Lassen Sie nicht außer Acht, dass dieser Konflikt sich genau an der Grenze des NATO-Gebiets abspielt", sagte Clinton in Brüssel. Erst letzte Woche seien die Türkei und Libanon beschossen worden. "Unser NATO-Partner Türkei spürt die Effekte des Konflikts durch den Zustrom von Flüchtlingen, die großzügig aufgenommen werden. Außerdem sind zwei Tote auf der türkischen Seite durch Artilleriebeschuss zu beklagen."
Der russische Außenminister Sergej Lawrow kam zu einem ganz anderen Schluss. Er sagte, die Situation an der türkischen Grenze zeige, dass die Flüchtlingslager offenbar als Rückzugsraum für Oppositionstruppen dienten. Der Begriff Flüchtling werde sehr weit ausgelegt. Das Treffen des NATO-Russland-Rates hat trotz der Beschwörung gemeinsamer strategischer Interessen gezeigt, wie diametral gegensätzlich die Auffassungen im aktuellen Syrien-Konflikt sind.