Stoltenberg: "Wir werden uns nicht erpressen lassen"
18. Oktober 2022Jens Stoltenberg trat im Rahmen der Veranstaltung Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung auf. Es sind dramatische Zeiten, für Europa, für die NATO, für Deutschland. Der Ukraine-Krieg eskaliert gerade, durch russische Luftangriffe auf ukrainische Städte und durch weitere nukleare Drohungen aus Moskau.
Doch Stoltenberg ist sich sicher: "Putin wird es nicht schaffen", den Kampfeswillen des ukrainischen Volkes zu brechen. Mithilfe westlicher Militärunterstützung hätten viele russische Raketen und Drohnen abgefangen werden können. Besonders lobt Stoltenberg hier die von Deutschland gelieferten Luftabwehrsysteme.
Durch die Unterstützung aus dem Ausland habe der russische Vormarsch auf Kiew gestoppt werden können, habe Russland nie die erwartete Luftüberlegenheit über der Ukraine erlangt und seien die ukrainischen Rückeroberungen im Osten und Süden möglich gewesen.
Und der NATO-Chef mahnt auch die Verbündeten zum Durchhalten: Die Mitgliedsstaaten sollten "soviel Unterstützung wie nötig und so lange wie nötig leisten". Das erinnerte an die Worte des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi, der in der Staatsschuldenkrise 2012 den Euro mit "allem, was nötig ist" ("whatever it takes") zu stützen versprach.
Der deutsche Militärbeitrag ist mitunter als unzureichend kritisiert worden. Die ukrainische Regierung wünscht sich vor allem deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2, was die Bundesregierung bisher ablehnt. Stoltenberg wich der Frage aus, ob Deutschland jetzt Leopard 2 liefern solle, betonte aber, an die gesamte NATO gewandt: "Wir müssen jetzt alle mehr tun." Und zwar nicht nur mehr liefern sondern auch "die Produktion ankurbeln, um unsere Bestände aufzufüllen". Die eigene Verteidigungsfähigkeit soll nicht vernachlässigt werden.
"Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden"
Russlands Präsident Putin hat immer wieder mit einem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Auch die jüngst nach Schein-Volksabstimmungen annektierten ukrainischen Gebiete stünden jetzt unter dem russischen atomaren Schutz. Einige Beobachter glauben, ein militärisch in die Enge getriebener Putin könne taktische Atomwaffen in der Ukraine einsetzen. Hier versucht der NATO-Generalsekretär ein wenig zu beruhigen: Man beobachte alle militärischen Bewegungen und möglichen Vorbereitungen sehr genau. "Die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen gegen die Ukraine ist gering." Aber die NATO sei "auf alle Eventualitäten vorbereitet".
Vorsorglich warnt er die Russen aber vor nicht näher bestimmten "ernsten Konsequenzen", sollten sie doch Kernwaffen einsetzen, und fügt hinzu: "Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden."
Besonders wichtig ist Stoltenberg die Botschaft sowohl an Putin wie an die Ukraine und die NATO-Verbündeten: "Wir lassen uns nicht von Russland einschüchtern oder erpressen." Durch die Drohungen wolle Putin nur erreichen, dass man die Unterstützung für die Ukraine stoppe. "Wenn wir das tun, wird Präsident Putin in der Ukraine gewinnen. Und wenn er gewinnt, würde das eine sehr gefährliche Botschaft an alle autoritären Führer senden, dass sie, wenn sie brutale militärische Macht einsetzen und das Völkerrecht brechen, ihre Ziele erreichen."
Dabei unterscheidet Stoltenberg durchaus zwischen einem möglichen russischen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine und einem Angriff - nuklear oder konventionell - auf ein NATO-Mitglied. Werde ein NATO-Land angegriffen, dürfe es in Moskau keinerlei Missverständnisse geben: Das "würde natürlich Artikel 5 auslösen, die Klausel kollektiver Verteidigung". Deshalb habe man auch im Osten der NATO die Truppenpräsenz verstärkt und in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. "Wir tun das nicht, um einen Konflikt zu provozieren, sondern um einen Konflikt zu verhindern."
Lehren für den Umgang mit China
Wäre die Ukraine heute schon in der NATO, gälte die Beistandsverpflichtung auch jetzt schon. Die einen glauben, das hätte einen russischen Angriff verhindert; andere, vor allem im westlichen Europa, sind froh, dass die NATO so nicht automatisch in den Konflikt hineingezogen wird. Der ukrainische Präsident Selenskyj fordert jetzt ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren. Doch dazu bleibt Stoltenberg vage: "Die Tür der NATO bleibt offen. Und eines Tages wird die Ukraine Mitglied sein." Russland habe dabei kein Mitspracherecht. Das sei allein Sache aller NATO-Mitglieder und der Ukraine selbst. Im Moment sei das aber nicht die Frage, jetzt müsse man sich darauf konzentrieren, "dass die Ukraine den Krieg gewinnt".
Stoltenberg zieht Lehren aus dem Ukrainekrieg auch für den Umgang mit einem immer aggressiver auftretenden China. Mit Blick auf eine mögliche chinesische Invasion in Taiwan sagte der NATO-Generalsekretär: "Es ist niemals hinnehmbar, wenn ein Land versucht, Territorium von einem anderen Land an sich zu reißen." China solle den Krieg gegen die Ukraine "zumindest verurteilen".
Muss Putin verschwinden, damit es eine Lösung in diesem Krieg gibt? Dieser Frage weicht Stoltenberg aus. Die NATO werde auf die russischen Aktionen reagieren, egal, wer dort regiere. Doch er gibt eine indirekte Antwort, und sie richtet sich wohl vor allem an jene, die glauben, die Ukraine solle Kompromisse eingehen, um Frieden zu haben: "Putin hat den Krieg angefangen." Und man dürfe nicht vergessen: "Wenn Präsident Putins Russland die Kämpfe einstellt, gibt es Frieden. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, wird sie als unabhängiger Staat aufhören zu existieren."
Das vollständige Interview in Conflict Zone ist am Mittwoch um 19:30 UTC auf Deutsche Welle English zu sehen.