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Nan Goldin: Wie der Nahostkonflikt die Kunst überschattet

27. November 2024

Die Fotografin wirft Israel Völkermord vor. Dafür wird sie gefeiert und verurteilt. Die Kulturszene gerät nicht das erste Mal zwischen die politischen Fronten. Und doch gibt es Hoffnung auf Dialog.

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Nan Goldin
Die US-Fotografin Nan Goldin kritisierte während einer Ausstellungseröffnung das Vorgehen Israels in GazaBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

"Nicht nur Deutschland, die ganze Welt ist derzeit gespalten, was den Nahostkonflikt angeht," sagt Meron Mendel, Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank.  Er ist einer, der auf Dialog setzt zwischen den unterschiedlichen Positionen. 

Das ist nicht einfach durchzusetzen, der Ton in der Gesellschaft ist rauer geworden. Auch in Deutschland. Es gibt Menschen, die bei jeder Kritik an Israel direkt Antisemitismus wittern, und es gibt propalästinensische Aktivisten, die Kulturveranstaltungen stören.

So geschehen vor ein paar Tagen in Berlin. Die US-Amerikanerin Nan Goldin, eine der renommiertesten zeitgenössischen Fotografinnen weltweit, war angereist, um ihre schon seit drei Jahren geplante Retrospektive "This Will Not End Well" in der Neuen Nationalgalerie zu eröffnen. Es ist eine Wanderausstellung, Berlin ist nach Stockholm und Amsterdam bereits die dritte Station. Bei der Eröffnungsrede ging es aber weniger um Kunst. 

Vorwürfe an Israel und Deutschland

Nan Goldin machte an dem Abend der Ausstellungseröffnung ihre Haltung zum Nahostkonflikt deutlich. "Ich habe beschlossen", sagte sie, "diese Ausstellung als Plattform zu nutzen, um meiner moralischen Empörung über den Völkermord in Gaza und im Libanon Ausdruck zu verleihen."

Goldin beklagte den Verlust Zehntausender Menschenleben, die in den vergangenen knapp 13 Monaten einen gewaltsamen Tod gestorben seien. Und sie erhob Vorwürfe gegen Deutschland und die staatliche Solidarität mit Israel. Deutschland sei die Heimat der größten palästinensischen Diaspora Europas so die Künstlerin, dennoch würden Proteste dieser Menschen mit Polizeihunden bekämpft. "Haben Sie Angst, das zu hören, Deutschland?"

Goldin ist Jüdin, ihre Großeltern entkamen Ende des 19. Jahrhunderts den antisemitischen Pogromen in Russland. "Ich bin mit dem Wissen über den Nazi-Holocaust aufgewachsen. Was ich in Gaza sehe, erinnert mich an die Pogrome, denen meine Großeltern entkommen sind", sagte sie und ergänzte: "Die gesamte Infrastruktur Palästinas ist zerstört worden. Die Krankenhäuser, die Schulen, die Universitäten, die Bibliotheken. Es ist auch ein kultureller Völkermord. Warum kannst du das nicht sehen, Deutschland?"

Propalästinensische Aktivisten jubeln Goldin zu

Bei vielen Besucherinnen und Besuchern kam die Rede Goldins gut an. "Ihre furchtlosen Worte der Fürsorge und Klarheit fanden überall in diesem Land Widerhall, das gegenwärtig die ganze Kraft des Gesetzes, der Medien, der kulturellen und akademischen Einrichtungen einsetzt, um die palästinensische Solidaritätsbewegung zum Schweigen zu bringen und zu kriminalisieren", schrieb ein User auf Instagram. "Es fühlte sich an wie das erste Mal seit langer Zeit, dass wir in Deutschland durchatmen konnten."

Viele Aktivisten waren mit Kufiyas und Palästinafahnen erschienen, "Viva Palästina-Rufe" schallten durch den Saal - und auch vor dem Museum fanden sich Protestierende ein, ein Banner mit der Aufschrift "Staatsräson ist Genozid" wurde ausgerollt. (Die deutsche Politik spricht von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel als "Staatsräson", Anm. d. Red.) Weder Nan Goldin noch das propalästinensische Künstlerkollektiv Arts and Culture Alliance Berlin haben bisher auf Anfragen der DW reagiert.

Meron Mendel sieht einen Wandel in der propalästinensischen Protestbewegung: "Wir sehen gerade, dass die Proteste jetzt weniger um die Forderung gehen, den Krieg zu beenden oder einen Waffenstillstand zu erreichen, sondern in den meisten Fällen darum, was unter Antizionismus zu verstehen ist: nämlich die Vorstellung, dass Israel als Staat keine Berechtigung hat und alles - von "The River to the Sea (zu Deutsch: "Vom Fluss bis ans Meer", gemeint ist vom Jordan bis ans Mittelmeer, jenes Gebiet, das sowohl Israel als auch die besetzten Palästinensischen Gebiete - das Westjordanland, Ostjerusalem, Gaza - umfasst, Anm. der Red.) - "Palästina sei", so Mendel gegenüber der DW. Das läge auch daran, wie Israel in großen Teil der Welt gesehen werde: nämlich sozusagen als ein kolonialer Staat - der letzte Vorposten des Westens im globalen Süden. 

Klaus Biesenbach  steht auf der Bühne, davor viele Menschen, einige mit Palästinafahnen
Klaus Biesenbachs (r.) Rede ging im Tumult unter Bild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Abgesagte Ausstellungen gerechtfertigt?

Propalästinensische Stimmen in Deutschland, argumentieren die Aktivisten, würden unterdrückt, Ausstellungen propalästinensischer Künstlerinnen und Künstlern reihenweise gecancelt. Auch Nan Goldin sprach diesen Punkt an. "Wir hatten tatsächlich nach dem 7. Oktober einige Fälle, wo palästinensische oder propalästinensische Künstler 'gecancelt' wurden", sagt Meron Mendel. "Es wurden Ausstellungen abgesagt, es wurden Konferenzen abgesagt, es wurden Menschen ausgeladen." So zum Beispiel die   südafrikanische Künstlerin Candice Breitz, selbst Jüdin,  der fälschlicherweise vorgeworfen wurde, einen Brief des BDS unterzeichnet zu haben. (Das Kürzel BDS steht für die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung "Boycott, Divestment, Sanctions", Anm. d. Red.). Sogar eine Preisverleihung wurde verschoben - an die palästinensische Autorin Adania Shiblibei der Frankfurter Buchmesse 2023. 

In mehreren Fällen seien diese Entscheidungen falsch gewesen, es habe Menschen getroffen, die keine antisemitischen Positionen vertreten, sagt Mendel. Es gab aber auch Fälle, wo es eine gewisse Berechtigung gegeben habe, Leute auszuladen: "Wenn es um Menschen ging, die beispielsweise das Massaker der Hamas am 7. Oktober als Befreiungsaktion gesehen haben und damit auch selbst implizit zu Gewalt aufgerufen haben."

Meron Mendel
Meron Mendel wirbt für konstruktiven Dialog Bild: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Schon lange wird in Deutschland debattiert, ab wann man als antisemitisch gilt. Kürzlich hat der Deutsche Bundestag  eine Antisemitismus-Resolution verabschiedet. Der Titel: "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken". "Also diese Resolution ist nicht mehr als eine Wiederholung der Resolutionen, die schon 2017 mit der Übernahme dieser IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance, Anm. d. Red.)-Definition und 2019 mit dem sogenannten BDS-Beschluss verabschiedet wurde", sagt Meron Mendel. "Insofern ändert diese Resolution an der Situation so gut wie nichts. Diesen Stillstand, Boykott und Gegen-Boykott, das hatten wir schon spätestens seit der documenta."  

Kritiker der Resolution bemängeln, dass sie für ein Klima der Selbstzensur und des Misstrauens sorge. Ins Feld führen sie unter anderem, dass die Resolution die sogenannte IHRA-Definition von Antisemitismus verwendet, die sehr weit ausgelegt werden kann. So werden dort beispielsweise "Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten" als antisemitisch definiert. Demnach kann auch die Haltung Nan Goldins, Gaza erinnere sie an die Pogrome, denen ihre Großeltern entkommen seien, als antisemitisch verstanden werden.

Die Debatten werden immer hitziger geführt - das zeigte sich eben auch bei der Ausstellungseröffnung in der Neuen Nationalgalerie. Als der Museumsdirektor Klaus Biesenbach ans Mikrofon trat, um Nan Goldin etwas zu entgegnen, war er wegen der lautstark skandierenden Aktivisten kaum zu verstehen. Der Mann, der eigentlich für Kunst zuständig ist, wurde plötzlich zum Repräsentanten eines Staates, der sich schwertut im Umgang mit den Protesten gegen Israel. 

Menschen mit Palästinensertuchen und Fahnen vor einem Gebäude
Propalästinensische Aktivisten demonstrierten in und vor der Neuen Nationalgalerie in BerlinBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Freie Meinungsäußerung geht im Tumult unter

Er las vergebens gegen den Tumult an. Am Dialog, so wurde später von Politkern beklagt, seien die Störer nicht interessiert gewesen. Als sie den Saal verlassen hatten, wiederholte Biesenbach seine Rede. Als Museum sei man der Freiheit der Kunst und der freien Meinungsäußerung zutiefst verpflichtet, auch wenn wir mit dieser Meinung nicht einverstanden sind", sagte Biesenbach. "Ebenso wichtig ist unser Engagement für die Würde jedes einzelnen Menschen, was eine entschiedene Ablehnung jeder Art von Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus und aller anderen Formen von Hass, Bigotterie und Gewalt erfordert." Die Neue Nationalgalerie distanziere sich klar von den Aussagen der Protestierenden. "Das Existenzrecht Israels steht für uns außer Frage. Der Angriff der Hamas auf den jüdischen Staat am 7. Oktober 2023 war ein grausamer Terrorakt, der durch nichts zu rechtfertigen ist." Er ergänzte: "Gleichzeitig fühlen wir mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und im Libanon mit, deren Leid nicht übersehen werden darf. Alle Menschen im Nahen Osten haben das Recht, ohne Angst und mit der Gewissheit ihrer Sicherheit zu leben. Wir setzen uns für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts ein."

Kultur, so Biesenbach in einem Statement, sei der Ort in unserer Gesellschaft, an dem man debattieren und diskutieren könne - aber nicht kämpfen.  

Verhärtete Fronten

Das sieht auch Mendel so. Bezüglich des Tumults bei der Ausstellungseröffnung meint er: "Gut, man kann diese Aktion unterschiedlich bewerten. Man kann sagen: Das war ein Akt des Protestes, und Protest darf auch laut sein und darf auch mal stören."  Aber danach, so sein Angebot, sollte man sich zusammensetzen und den Dialog ermöglichen zwischen den unterschiedlichen Positionen. Deswegen hatte die Neue Nationalgalerie zum Symposium "Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung" geladen. 

Fotografin Nan Goldin am Mikrofon
Zahlreiche Anwesende bejubelten Goldins Rede in der Neuen Nationalgalerie - zum Symposium wollte sie nicht kommenBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Palästinenser und Israelis, Zionisten, Antizionisten, Juden und Nichtjuden - jeder sollte hier offen seine Meinung vertreten können, so wie Nan Goldin bei ihrer Eröffnungsrede. "Es war ja klar, dass sie eine dezidierte propalästinensische antiisraelische Position einnehmen wird und trotzdem wurde ihr die Bühne gegeben, und sie durfte alles sagen, was sie wollte", sagt Meron Mendel. 

Nan Goldin lehnte die Teilnahme am Symposium allerdings ab. Einige propalästinensische Aktivisten versuchten sogar, die Veranstaltung zum Kippen zu bringen. "Sie haben nicht nur Podiumsgäste bedroht und angefeindet, sondern auch Mitarbeiter der Neuen Nationalgalerie", sagt Mendel. "Sie wurden auch als Nazis beschimpft und ihnen wurde mit Konsequenzen gedroht. Von daher sehen wir, dass hier Extremisten von beiden Seiten genau die gleichen Waffen benutzen: Waffen des Boykotts und Cancelns, um die zivilisierte, die konstruktive Diskussion zu verhindern."

Trotz mehrerer Absagen war das Symposium ein Erfolg, findet Mendel: "Es war nicht das Ziel, dass wir am Ende des Tages mit Konsens rauskommen", sagt er, aber man habe respektvoll miteinander geredet. "Und insofern stellt sich die Frage: Wem geben wir die Aufmerksamkeit? Denjenigen, die laut schreien, die zum Boykott aufrufen und Gewalt ausüben? Oder schenken wir unsere Aufmerksamkeit den 500 Menschen, die interessiert und kontrovers miteinander gesprochen haben?"

Suzanne Cords Weltenbummlerin mit einem Herz für die Kultur