Haitis Katastrophe
10. Oktober 2016"Es bietet sich ein gespenstisches Bild, wo der Hurrikan gewütet hat", sagt Alexander Mauz. Der Projektkoordinator für Mittelamerika vom Arbeiter-Samariter-Bund berichtet von zerstörten oder beschädigten Gebäuden und umgestürzten Bäumen. Straßen sind kaum passierbar. Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser. Mauz hält sich seit Freitag in der besonders stark betroffenen Region Les Cayes im Südwesten Haitis auf. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 230 Kilometern pro Stunde traf der Wirbelsturm am Dienstag dort auf die Insel Hispaniola. Seitdem ist Les Cayes vom Rest der Insel abgeschnitten. Laut UN-Umweltprogramm (UNEP) sind in der südlichen Küstenregion insgesamt 90 Prozent der Häuser unbewohnbar. Wie groß das Ausmaß der Zerstörung ist, wird erst jetzt, eine Woche später, sichtbar. Hilfsorganisationen dringen erst nach und nach in andere Teile der Region vor.
Angespannte Sicherheitslage
"Viele Haitianer sind panisch. Die Anspannung steigt von Tag zu Tag. Sie haben Angst vor Cholera und anderen Seuchen", erzählt Mauz. Eigentlich seien Haitianer solche Wirbelstürme gewohnt, meint er. Doch ihr Lebensmut weiche inzwischen der Verzweiflung. Das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) warnte vor dem Ausbreiten von Seuchen, weil Zehntausende keinen Zugang zu sauberem Wasser hätten. Landesweit wurden bereits mehrere Cholerafälle gemeldet. Besonders die Sicherheitslage ist angespannt. "Wenn Hilfsgüter verteilt werden, kann die Situation sehr schnell eskalieren. Die haitianische Regierung rät, Hilfsgüter nur noch in Polizeistützpunkten zu verteilen", berichtet Mauz.
Laut dem UN-Büro für Humanitäre Hilfe (OCHA) sind knapp die Hälfte der elf Millionen Haitianer von der Verwüstung betroffen. Nach Angaben des Zivilschutzes kamen mindestens 336 Menschen ums Leben. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet von etwa 1000 Todesopfern. Rettungskräfte vor Ort rechnen damit, dass die Zahl der Toten noch weiter steigen wird. Hinzu kommt, dass sich das Land noch nicht von dem verheerenden Erdbeben vor sechs Jahren erholt hat. Die Naturkatastrophe hatte 2010 mehr als 220.000 Todesopfer gefordert. Etwa 60.000 Menschen leben noch immer in Lagern, deren Unterkünfte nun durch "Matthew" zerstört wurden. Die internationale Gemeinschaft pumpte Milliarden Hilfsgelder in den Karibikstaat. Das Land stand jahrelang in der Kritik, bis zu 90 Prozent der Wiederaufbaugelder verschwendet zu haben - für Personalkosten, Flugzeuge und den Verwaltungsapparat. Viele Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen (UN) verwalteten den Wiederaufbau.
"Es war alles umsonst"
Eine davon ist die internationale Hilfsorganisation Caritas. In den vergangen drei Jahren führte sie ein Projekt zur Katastrophenprävention durch. Das Programm sollte damals zusätzlich zur bitter nötigen Soforthilfe Haiti auch langfristig vor den Folgen solcher Katastrophen bewahren. Im Rahmen dieses Projekts wurden auch Schutzgebäude errichtet, die hurrikan- und erdbebensicher sind, erklärt Kathrin Göb, Landeskoordinatorin für Haiti. Dort sollen Menschen in Sicherheit gebracht werden. Zwar waren die Gebäude noch nicht ganz fertiggestellt, dennoch konnten sich 500 Menschen dorthin retten und so den Wirbelsturm überleben, sagt Göb. Die Caritas habe auch sogenannte Katastrophenschutz-Komitees in einzelnen Gemeinden geschult, dass sie mit der nationalen Katastrophenbehörde zusammenarbeiten und Evakuierungswege festlegen können. "Wir werden nur jetzt erst wissen, inwieweit diese Maßnahmen gegriffen haben und ob wir die Schäden reduzieren konnten", meint Göb. "Wir verfolgen das Prinzip der Selbsthilfe, arbeiten langfristig mit unseren Partnern zusammen", sagt die Landeskoordinatorin. "Aber wenn ein Wirbelsturm dieses Ausmaßes kommt, ist alles umsonst. Jetzt müssen wir schnell alles wieder aufbauen. Ich gehe davon aus, dass wir neue Bäume pflanzen werden, und hoffe, dass sie den nächsten Sturm überstehen."
Wenn Naturkatastrophen, Inkompetenz, Korruption und Gewalt zusammentreffen
Nach dem Erdbeben 2010 ist viel schiefgegangen, darin sind sich Hilfsorganisationen einig. Behörden funktionierten nicht gut, es gibt keinen effektiven Sicherheitsapparat, und Korruption ist weit verbreitet. Damit hätten alle Hilfsorganisationen nach dem Erdbeben zu kämpfen gehabt, sagt Kathrin Göb. NGOs arbeiteten ohne Koordination, bemerkte damals auch Alexander Mauz. "Die Situation jetzt ist nicht so verheerend wie nach dem Erdbeben. Es gibt derzeit viel weniger internationale NGOs, was die Koordination einfacher macht zwischen den UN und der Zivilgesellschaft. Das funktioniert eigentlich ganz gut", urteilt Mauz. Die Koordination mit der Regierung sei hingegen schwierig, wenn nicht chaotisch, sagt der Projektkoordinator.
Wahlkampf auf dem Rücken der Notleidenden
Die politische Krise ist in Haiti zum Dauerzustand geworden. Ein Streit zwischen Regierung und Opposition lähmt das Land. Wegen Manipulationsvorwürfen wurde das Ergebnis der letzten Wahl annulliert. Bereits im Februar schied der frühere Staatschef Michel Martelly ohne gewählten Nachfolger aus dem Amt. Seitdem regiert Übergangspräsident Jocelerme Privert das Land. Eigentlich hätte an diesem Sonntag ein neuer Präsident gewählt werden sollen. Wegen Hurrikan "Matthew" sagten die Behörden die Wahl ab. "Die Katastrophe wird benutzt, um Wahlkampf zu machen", meint Mauz. "Ich habe nicht das Gefühl, dass es der Regierung derzeit um das Wohl der Bevölkerung geht. Daran hat sich in den letzten fünf, sechs Jahren nichts geändert."