Die Mühen der Reformer
21. November 2018An die dramatischen Novembertage des Jahres 2013 wird sich Mychajlo Schernakow sein Leben lang erinnern. Zusammen mit Millionen proeuropäisch gesinnter Ukrainer bangte er um den Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit der EU. Nach jahrelangen Verhandlungen sagte die Regierung in Kiew am 21. November die angekündigte Unterschrift unter dem Abkommen schließlich ab und wandte sich Russland zu. Als eine Woche später eine proeuropäische Studentendemo auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, brutal niedergeschlagen wurde, war Schernakow unter Hunderttausenden empörten Ukrainern, die auf die Straße gingen.
Für den damals 28-Jährigen stand viel auf dem Spiel. Der junge Jurist aus Winnyzja, einer Provinzstadt 250 Kilometer südwestlich der Hauptstadt, stand gerade am Anfang einer steilen Karriere. Er war damals schon Richter am regionalen Verwaltungsgericht und damit Teil des Systems, gegen das er protestierte. "Ich hatte das Glück, in einem relativ jungen Team zu arbeiten. Aber schnell sah ich, wie korrupt und politisch abhängig die Gerichte in der Ukraine sind", so Schernakow im Gespräch mit der DW.
Reform-Elan nach dem Umsturz
Nur wenige Wochen nach der Flucht von Präsident Viktor Janukowitsch und seiner korrupten Machtriege im Februar 2014 nach Russland unterzeichnete die neue Regierung in Kiew das Assoziierungsabkommen mit der EU. Auf alte Sowjetapparatschiks in der Regierung waren teilweise junge Minister mit internationaler Erfahrung gefolgt. Die Ukraine veränderte sich zunächst in einem beeindruckenden Tempo.
Wegen drohender Staatspleite wurden Schlupflöcher gestopft, die es den Machthabern über Jahre ermöglicht hatten, die Staatskasse zu plündern. Auf Druck der internationalen Gläubiger haben die Reformen seit 2014 insgesamt zu Einsparungen im Staatsetat in Höhe von jährlich rund sechs Milliarden US-Dollar geführt, errechneten kürzlich Experten des Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER) in Kiew. "Vor den Reformen floss das Geld in die Taschen gewisser Personen", so die IER-Expertin Oleksandra Betliy. Beispielsweise Oligarchen hatten sich an den großen staatlichen Energiekonzernen bereichert, die unter ihrer Kontrolle standen.
Auf Euphorie folgte Ernüchterung
Doch der Reformeifer in Kiew war nach weniger als zwei Jahren verflogen. Bezeichnend war Anfang 2016 der Rücktritt des jungen Wirtschaftsministers Aivaras Abromavicius. Sein zentrales Anliegen war, die Staatsunternehmen der Kontrolle von Oligarchen und einflussreichen Politikern zu entreißen. Abromavicius sagte bei seinem Rücktritt offen, von Personen aus dem Umfeld um Präsident Petro Poroschenko unter Druck gesetzt worden zu sein.
Auch der junge Richter Mychajlo Schernakow war schon bald nach den Maidan-Protesten ernüchtert. Er fuhr regelmäßig nach Kiew, um an Runden Tischen über die Justizreform zu beraten. Aufgrund seiner Studienaufenthalte in Rotterdam und Bologna verfügt Schernakow über internationale Expertise. Sein großes Anliegen ist, die ukrainische Justiz so umzugestalten, dass Richter sich vor politischer Einflussnahme schützen können. Doch Schernakow erkannte schnell, dass die neue Führung in Kiew mit alten Methoden regieren will.
Neue Gesetze, alte Justiz
Ende 2015 quittierte der Richter schließlich seinen Dienst - aus Protest gegen die politische Einflussnahme auf die Justiz. Zwar gelang es Aktivisten und Nachwuchspolitikern mit Hilfe der EU, neue Gremien zur Selbstverwaltung der Richter durchzusetzen, doch in der Praxis änderte sich wenig.
"Die Richter sind nach wie vor von den Machthabern abhängig. Die Organe der Selbstverwaltung werden nun zur Bestrafung von Richtern missbraucht, die gegen die Mächtigen aufmucken", bemängelt Schernakow. In der Praxis sei die Reform am Machtinstinkt der alten Eliten in Kiew gescheitert, aber auch am Unwillen der alten Richtergarde, für Unabhängigkeit zu kämpfen.
Doch aufgeben will Schernakow nicht. Er gründete eine NGO, die mit internationaler Unterstützung einen langfristigen Systemwandel verfolgt. "Die Veränderungen sollen früh ansetzen, und zwar schon bei der Ausbildung von Juristen", so der Aktivist.
Poroschenko ein halbherziger Reformer?
Das Vertrauen in den ukrainischen Präsidenten Poroschenko hat auch Daryna Kalenjuk vom ukrainischen "Anti Corruption Action Center" verloren. Sie kritisiert, die Führung in Kiew gaukle den internationalen Gebern wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU Reformen nur vor. "Wir müssen die Mogeleien der Regierung bei den zugesagten Reformen aufdecken und unseren internationalen Partnern die Risiken klar aufzeigen", meint Kalenjuk. Ihre NGO, aber auch die von Schernakow, werden von Regierungen und Stiftungen verschiedener EU-Länder regelmäßig gefördert.
Kalenjuk und Schernakow stehen für eine neue Generation ukrainischer Reformakteure nach dem Maidan. In den vergangenen Jahren konnten sie beachtliche Expertise sammeln. Sie sind inzwischen international bestens vernetzt. Europäische Spitzenpolitiker aus Berlin, Paris oder Brüssel treffen bei ihren Besuchen in Kiew nicht nur die Staatsführung, sondern oft auch Antikorruptionsaktivisten.
Ein anderes Land als vor fünf Jahren
Trotz des zunehmenden Widerstands gegen die Reformen ist die Ukraine fünf Jahre nach dem Maidan-Aufstand ein anderes Land. Ein Reformerfolg mit der wohl größten symbolischen Bedeutung ist die visafreie Einreise in die meisten EU-Staaten. Fast 1,5 Million Ukrainer konnten seit 2017 ohne lästige Visaverfahren in die Länder des Schengen-Raums einreisen.
Als Teil des "Visa-Reformpakets" entstand im Jahr 2015 das unabhängige Nationale Antikorruptionsbüro (NABU). Präsident Poroschenko ließ sich dafür auf internationalen Foren feiern. Doch schon bald schlugen NGOs Alarm. Immer wieder wird das NABU in seiner Arbeit von der Generalstaatsanwaltschaft behindert, deren Leiter ein enger Vertrauter des Präsidenten ist.
Antikorruptionsgericht als nächster Schritt
Dutzende einflussreiche Politiker wurden zwischenzeitlich vom NABU der Korruption überführt, darunter einige Vertraute von Petro Poroschenko. Doch kein einziger wurde bis heute verurteilt. Richter der alten Garde lassen Verfahren jahrelang liegen. Regelmäßig sorgen umstrittene Entscheidungen zugunsten mächtiger Beschuldigter für Unmut.
Deswegen kämpft eine Koalition aus Nichtregierungsorganisationen seit Jahren für ein unabhängiges Antikorruptionsgericht. NGOs setzten sich dafür ein, dass die Richter des neuen Gerichts von einer renommierten internationalen Expertenkommission in einem transparenten Verfahren ausgewählt werden. Präsident Poroschenko lenkte nach jahrelangem Ringen zähneknirschend ein. "Zwei Jahre lang blockierte der Präsident ein entsprechendes Gesetz", so Schernakow. Er meint, dass 2019 nun doch noch ein Antikorruptionsgericht kommt, sei nur dem Druck der internationalen Geldgeber zu verdanken.