Mutterseelenallein auf der Flucht
17. März 2016"Der serbische Wald war der schlimmste Teil meiner Flucht", sagt der 16-jährige Fahad. Er erinnert sich mit Grauen an ein fast undurchdringliches Dickicht von Bäumen und Büschen. "Nachts kannst du es komplett vergessen, da ist kein Durchkommen, erzählt der junge Syrer. Fahad hat sich vergangenes Jahr von Damaskus bis nach Berlin durchgeschlagen.
Fast einen Monat war er unterwegs: 3500 Kilometer insgesamt. Über das Ägäische Meer und durch sieben Länder. Der Teil der Reise über den Balkan hat sich fest in Fahads Erinnerung eingebrannt. Tagelang kämpfte er dort gegen Hunger und Erschöpfung, ständig in Angst von Kriminellen ausgeraubt oder von der Polizei festgenommen zu werden.
Mittlerweile haben mehr als 60.000 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge wie Fahad in Deutschland Schutz gesucht. Dass Kinder und Jugendliche alleine die lebensgefährliche Reise nach Europa wagen, hat unterschiedlichste Gründe, so Niels Espenhorst vom "Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" (BumF).
Einige werden von ihren Familien fortgeschickt, weil ihnen beispielsweise die Zwangsrekrutierung durch Armee und Milizen droht oder sie werden auf der Flucht von ihren Familien getrennt. "Es gibt auch Kinder, die von zu Hause ausreißen", sagt Espenhorst. Etwa weil sich die eigene Familie einer Miliz angeschlossen hat und Gefahr läuft, in Gefechte verwickelt zu werden.
Dem Terror entkommen
Fahads Grund zur Flucht, war ein anderer: Im April 2015 wurde er in Damaskus festgenommen, weil er keinen Ausweis bei sich trug. Die Polizei brachte ihn in ein überfülltes Kellerverlies in dem bereits dutzende Frauen und Männer einsaßen. "Jeder der schlecht über die Regierung spricht, bei Facebook oder anderswo, wird dort hineingesteckt", berichtet Fahad. "Die verschwinden einfach und vor einen Richter kommt nie einer."
Was genau sich in der Gefangenschaft ereignete, will Fahad nicht erzählen. Nur, dass er gefoltert wurde. Nach zwei Wochen gelang es einem Freund 300 Dollar ins Gefängnis zu schmuggeln, versteckt in einem Lebensmittelpaket. Geld mit dem Fahad sich freikaufen konnte.
Danach war sein Entschluss gefasst: Er musste weg, allen Gefahren zum Trotz: "Wir sehen auf YouTube und Facebook die Bilder von den Leuten, die im Mittelmeer ertrinken. Entweder ich bleibe in Syrien und habe keine Zukunft oder ich sterbe auf der Flucht. Das ist immer noch besser." Fahad brach den Kontakt zu seiner Familie ab. Die Flucht organisierte er allein.
Die erste Etappe legte er mit dem Flugzeug zurück: von Damaskus in die türkische Küstenstadt Izmir. Zwar war er dort in Sicherheit, die Türkei war für den jungen Syrer dennoch keine Option. Sein Ziel, die Schule abzuschließen und zu studieren, hätte er in der Türkei nicht erreichen können, sagt Fahad. Bildung habe für ihn oberste Priorität.
Eine Frage des Geldes
Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen setzte Fahad in einem Schlauchboot nach Europa über. 1000 Euro kostete ihn das Schleuserticket auf die griechische Insel Chios. Dort wurde die Gruppe von den griechischen Behörden registriert und auf die Fähre nach Athen gesetzt. Zweitausend Euro hatte Fahad an diesem Punkt noch in der Tasche. Zusätzlich zu seinem Ersparten hatte er sich Geld von Freunden geliehen.
Nicht alle haben so viel Glück. Insbesondere Jungen und Mädchen, die kaum Geld dabei haben, können in ihrer Not leicht Opfer von Menschenhändlern werden. Das kommt nach Angaben des "Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" immer wieder vor. Dabei sei Prostitution ein Mittel, um das nötige Geld für die weitere Flucht zusammenzubekommen. Doch am Ziel ist ihr Leid nicht unbedingt zu Ende. "Es ist davon auszugehen, dass das in Deutschland natürlich auch eine Rolle spielt", bestätigt Experte Espenhorst.
Fahad legte die Strecke bis zur Mazedonischen Grenze in einem Taxi zurück. Alleine, wie er sagt, denn er konnte niemandem trauen. "Ich wollte keine Freunde finden, denen ich nachher noch hätte Geld leihen müssen, sagt Fahad. Von Mazedonien aus ging er zu Fuß weiter. Mit leichtem Gepäck durch die Wälder. Sein Proviant bestand aus Wasser und Kartoffelchips, von denen er alle paar Stunden eine Handvoll aß. So schaffte er es bis nach Ungarn.
In Deutschland auf sich gestellt
Fast einem Monat nachdem er Damaskus verlassen hatte, setzte ein Schlepper Fahad schließlich auf deutschem Boden ab: in Passau. Inzwischen lebt er in Berlin in einer Wohngemeinschaft für minderjährige Flüchtlinge. Die erste Woche in Deutschlands Hauptstadt schlief er in einem Park gegenüber vom Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz LaGeSo, der ersten Anlaufstelle für Flüchtlinge in Berlin. Nachdem er bei verschiedenen Behörden vorgesprochen hatte, brachte man Fahad in einem Hostel unter. Dort war er wieder völlig auf sich allein gestellt.
Gerade in Berlin dauert es oftmals sehr lange, bis minderjährige Flüchtlinge ordentlich untergebracht sind. Zurzeit warten fast 2000 Jugendliche auf ein erstes Gespräch mit dem Jugendamt - ohne Gesundheitsversorgung, Vormundschaft oder der Möglichkeit zur Schule zu gehen. Bildung ab dem ersten Tag sei einer der wichtigsten Faktoren um jugendliche Flüchtlinge zu integrieren, so Niels Espenhorst. Dabei geht es nicht nur darum, sich zu verständigen und Wünsche zu äußern. "Einem Jugendlichen, einem Kind, das im Krieg groß geworden ist, muss man erst mal zeigen, welche Möglichkeiten es im Leben überhaupt gibt."
Fahad hat seine Chance schon früh erkannt. Er bereitet sich zurzeit auf die Mittlere-Reife-Prüfung vor. Angetrieben von dem Wunsch, in Deutschland bleiben zu dürfen und es zu schaffen. "Meine Zukunft ist das Einzige, was mich motiviert hat", sagt Fahad. Er will für sich selbst sorgen können. Sein Ziel: "Die Leute sollen mich eines Tages sehen und Fragen: 'Wer ist das?' Das ist Fahad der Pilot. Ich will jemand sein."