Der Fall "Julie"
16. März 2021Corinne Leriche kann seit Wochen kaum noch schlafen. Sie hat Albträume, wacht nachts auf, hat am ganzen Körper Hautausschlag. Denn kommenden Mittwoch (17.3.2021) entscheidet ein französisches Gericht darüber, ob ihre Tochter, die sie in den Medien "Julie" nennt, als Vergewaltigungsopfer anerkannt wird und ihr Fall dementsprechend verhandelt wird. Ein Urteil, das nicht nur für Familie Leriche wichtig ist. Denn damit könnte ein Präzedenzfall für Frankreichs Justiz geschaffen werden.
Ein Gericht hatte 2020 nämlich entschieden, den Vorwurf der Familie Leriche nicht als Vergewaltigung einzustufen, sondern die Männer wegen sexueller Nötigung anzuklagen - was bedeuten könnte, dass es sich um ein einvernehmliches sexuelles Verhältnis zwischen einer Minderjährigen und Erwachsenen gehandelt haben soll.
"Es ist unerträglich - seit über zehn Jahren überschatten diese schrecklichen Ereignisse unser Leben. Ich würde am liebsten schreien: 'Hört endlich auf zu lügen'", sagt Leriche.
Es begann im April 2008. Die Feuerwehr brachte Julie, damals gerade 13 Jahre alt, von der Schule ins Krankenhaus, weil ihr auf einmal schwindelig wurde und sie in Ohnmacht fiel. Doch ihre Retter seien schnell zu ihren Peinigern geworden, sagt die Familie.
Nach dem Vorfall in der Schule entwickelt Julie eine Sozialphobie, bleibt die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Sie leidet an einer schweren Depression. Die Ärzte verschreiben ihr starke Beruhigungsmittel und Antidepressiva. 16 Mal versucht sie in den darauffolgenden zwei Jahren sich umzubringen.
"Vergewaltigt in der Kinderpsychiatrie"
Mehrere Dutzende Male habe die Familie damals ahnungslos die Feuerwehr gerufen, die in Frankreich auch oft Erste Hilfe leistet. Es habe sich ein Vertrauensverhältnis zu den Männern aufgebaut, was diese ausgenutzt hätten, so die Mutter. Immer wieder hätten sie das Mädchen bedroht, um sie dadurch zu Treffen zu überreden und dann zu vergewaltigen, habe Julie ihrer Mutter erzählt. Einer der Feuerwehrleute, Pierre C., soll ihre Telefonnummer behalten und sie danach mehrfach kontaktiert haben. Julie sagt, er habe ihr Nackt-Fotos geschickt und ihre Nummer an seine Kollegen weitergegeben.
Einmal habe ein Feuerwehrmann der Familie gesagt, er würde mit ihr spazieren gehen, habe Julie aber zu sich nach Hause gebracht, wo zwei Kollegen auf sie gewartet hätten. Ein anderes Mal habe sie einer von ihnen vergewaltigt, als er sie in der Kinderpsychiatrie besucht habe. Sie hätten gesehen, wie sie sich selbst zerstört und trotzdem weitergemacht, wirft Corinne Leriche den Männern wütend vor.
Erst als die Ärzte Julies Medikamente im Juli 2010 absetzen, vertraut sich Julie ihrer Mutter an. Daraufhin erhebt die Familie Anklage wegen Vergewaltigung gegen 20 Feuerwehrmänner - alle damals um die 20 Jahre alt. Doch nur gegen drei von ihnen wurde bisher ein Verfahren eröffnet. Der Untersuchungsrichter glaubte den anderen Feuerwehrmännern, dass sie nicht wussten, dass Julie damals erst 13 Jahre alt war und leitete kein Verfahren gegen sie ein.
Strafmaß könnte auf ein Drittel sinken
Die unter Anklage stehenden Männer sagen, Julie sei einverstanden gewesen. Eine Interviewanfrage der DW an den Anwalt der Angeklagten wurde abgelehnt. Ein Richter verwies den Fall schließlich an die Strafkammer. Der Anklagepunkt der Vergewaltigung wurde so in das Delikt der sexuellen Nötigung umgewandelt.
Man habe nicht beweisen können, dass Julie nicht einverstanden gewesen sei, hieß es. Die Höchststrafe könnte bei einem abschließenden Urteil damit von möglichen 20 auf 7 Jahre Haft sinken. Damit das nicht passiert, haben Julie und ihre Mutter geklagt. Das endgültige Urteil zu dem Einspruch fällt das Oberste Revisionsgericht kommenden Mittwoch.
Frankreich hat kein Schutzalter
"Es steht für Erwachsene unter Strafe, Geschlechtsverkehr mit Kindern unter 15 Jahren zu haben", erklärt Pascal Cussigh, Anwalt und Vorsitzender des Kinderrechtsvereins CDP-Enfance der DW. "Aber um jemanden für Vergewaltigung zu verurteilen, muss erwiesen sein, dass Gewalt angewendet wurde, man bedroht oder gezwungen wurde – sonst gilt es als sexueller Übergriff." Ein solcher Beweis ist im Fall von Julie umso schwerer, da sie ihrer Mutter erst später davon erzählte.
Außerdem misstrauten französische Richter Kindern, meint Cussigh. "Das ist seit der Justiz-Affäre Outreau aus den Jahren 1997 bis 2000 so, bei der einige Erwachsene der Vergewaltigung und des sexuellen Übergriffs an Kindern beschuldigt und schließlich freigesprochen wurden, weil sich herausgestellt hatte, dass die Kinder teilweise gelogen hatten", meint er.
Dabei hätten viele vergessen, dass die Kinder, obwohl sie teilweise gelogen hatten, trotzdem alle als Opfer von Sexualstraftaten anerkannt worden waren, und man also keinesfalls aus dem Fall schließen sollte, dass Kindern in solchen Fällen nicht zu glauben sei. Dennoch käme es nur in einem Prozent der Vergewaltigungsfälle von Kindern in Frankreich zu Verurteilungen.
Mindest-Altersabstand?
Doch auch Frankreich soll nun wie andere europäische Länder ein formelles Schutzalter für Minderjährige bekommen. Sex mit Kindern unter diesem Alter würde dann automatisch als Vergewaltigung gelten. "Wir wollen Kinder besser schützen durch Regeln, die mit unserem Rechtssystem vereinbar sind", sagt eine Sprecherin des Justizministerium der DW.
Im Moment gibt es mehrere Vorschläge des Parlaments zu einem Mindestalter, die Regierung plädiert für 15 Jahre – allerdings mit einem Mindest-Altersabstand, den es noch zu definieren gilt. Läge dieser beispielsweise bei fünf Jahren, wie von der Regierung vorgeschlagen, würde das heißen, dass ein 18-Jähriger eine Beziehung mit einer 14-Jährigen haben kann trotz eines Schutzalters von 15 Jahren, weil der Abstand zwischen beiden nur vier Jahre betragen würde.
Urteil könnte Präzedenzfall schaffen
Dennoch gingen die Dinge in die richtige Richtung, meint Sophie Barre von der Gruppe für Frauenrechte NousToutes - Wir Alle - , die regelmäßig Demonstrationen zur Unterstützung von Julie organisiert. "Die Mentalität in unserem Land verändert sich langsam", sagt sie der DW. Dabei hofft sie auf mehr als nur ein Schutzalter: "Wir müssen Polizisten, Richter, Psychiatern beibringen, wie man Vergewaltigung erkennt, damit sie diese früher melden und sich besser um die Opfer kümmern können."
Sollte das Gericht im Sinne von Julie entscheiden, könnte damit indes ein Präzedenzfall geschaffen werden. Das würde die Definition von Vergewaltigung von Kindern erweitern. "Sollte unser Antrag jedoch abgelehnt werden, wird unsere Familie Frankreich verlassen", sagt Leriche. "Wir können doch nicht in einem Land leben, wo die Justiz uns mit Füßen tritt und erniedrigt."