Musik mit Schmäh: Die Wiener Szene startet durch
22. Dezember 2016Wien im Dezember 2016. In den Straßen hängen noch vollgeschmierte Plakate der Kandidaten zur Bundespräsidentenwahl, auf den Einkaufsstraßen und den Weihnachtsmärkten herrscht Endspurt beim alljährlichen Shopping-Wahnsinn. Im "Porgy & Bess" im 1. Bezirk wirkt die vorweihnachtliche Aufregung gerade sehr weit weg. Auf der Bühne des Jazzclubs sitzt ein entspannter junger Typ mit Lederjacke und Gitarre und sagt im Zeitlupen-Duktus seinen nächsten Song an: ein Cover von "Du schwarzer Afghane" der österreichischen Musiklegende Wolfgang Ambros.
Entspannt im Jazzclub
Sein Publikum ist bunt gemischt; blutjunge Hipster sind ebenso vertreten wie Bildungsbürger und Alt-Hippies. Der Mann auf der Bühne ist Nino Mandl alias Der Nino aus Wien. Als er den ersten Vers singt, lacht ein distinguierter älterer Herr laut auf. Er hat die Kifferhymne offensichtlich wiedererkannt.
Seit 2008 bringt Der Nino ein bis zwei Alben pro Jahr heraus. Seine Einflüsse heißen Beatles, Bob Dylan oder Syd Barrett. "Ich hab' zuerst probiert, auf Englisch zu singen, aber es hat sich nicht gut angefühlt", sagt er. In seiner Anfangszeit hatten es österreichische Bands schwer, überhaupt gebucht zu werden. Kaum ein Musiker sang im Dialekt. Die goldenen Tage des Austro-Pop um Wolfgang Ambros, Georg Danzer oder Falco lagen lange zurück. Als Nino sich traute, Lieder mit Wiener Akzent zu singen, traf er einen Nerv und tourte bald durch Österreich und Süddeutschland.
Wien als Projektionsfläche
Dann kam 2014/2015 der gigantische Erfolg der Wiener Band Wanda, mit ausverkauften Konzerten in Städten wie Berlin oder Hamburg. Die Indie-Rocker, die mit viel Pathos von Suff, Verzweiflung, Sex und Liebe sangen, wurden in Deutschland mit offenen Armen empfangen. Musikmagazine überschlugen sich mit Superlativen, die "Süddeutsche Zeitung" nannte Wanda "unwiderstehlich", das TV-Magazin "Kulturzeit" sprach von einem "Phänomen".
Die schwärmerischen Beiträge deutscher Journalisten verrieten dabei mehr über ihre eigenen Fantasien als über Wien – über eine Sehnsucht vieler Deutscher nach den Attributen der österreichischen Hauptstadt: romantisch, verrucht, angestaubt und hin und wieder derb. In der Summe das, was Wiener selbst gern als "räudig" bezeichnen. Das Label Austro-Pop zog, der deutsche Ösi-Hype war da.
Die Krise als Chance
"Das ist eine Welle, die wieder vorbeigeht. Aber wenn sie mir hilft, Platten zu verkaufen, ist es auch okay", sagt Stefan Redelsteiner. Er hat Nino aus Wien entdeckt, Wanda groß gemacht und in seinem Verlag die erfolgreiche Autorin Stefanie Sargnagel unter Vertrag. In einem Lokal im 5. Bezirk erzählt er bei Pasta und Bier, wie er die Sache mit der deutschen Wien-Hysterie sieht: "In Wahrheit sind wir uns heute alle ähnlich. Du steigst aus einem Flieger und weißt erstmal nicht, ob du in Köln, Wien oder Berlin bist. Erst wenn du den Stephansdom, also ein Klischee siehst, weißt du wieder, wo du bist. Wir verkörpern komischerweise diesen Wien-Patriotismus – eben durch diese ganzen Klischees, die über uns, auch durch unsere Mitschuld, tradiert werden."
Redelsteiner war immer Musikfan und spielte selbst in Bands, bis er sich entschied, im Hintergrund zu wirken. 2007, "als die österreichischen Majorlabel am Boden lagen", gründete er sein erstes Label Problembär Records – ohne jede Vorbildung. Einen Masterplan hatte Redelsteiner nie, er folgt einfach seinem Geschmack. Ihn begeistern vor allem Künstler, die das Spiel zwischen Authentizität und Show beherrschen. "Es ist schon eine Verfremdung", sagt er. "Deswegen wehren sich die meisten Bands, mit denen wir arbeiten, gegen das Wort 'authentisch', was gerade Deutsche uns gerne umhängen."
Der Mann der Stunde
Auch Voodoo Jürgens bewegt sich geschickt auf dem Grat zwischen Realität und Verfremdung. Der in Tulln in der Nähe von Wien geborene Musiker schoss im Oktober 2016 mit seinem Debütalbum "Ansa Woar" ("Einserware") aus dem Stand auf Platz 1 der österreichischen Charts und zog damit an etablierten Pop- und Schlagerstars vorbei. Ein Streich, den wohl niemand in der österreichischen Musikindustrie erwartet hatte, denn Voodoo singt im breitesten Dialekt von Menschen, die nicht auf der Gewinnerseite des Lebens stehen. Ohne jede Plakativität gelingt ihm ein Panoptikum von Gestalten am Rande der Gesellschaft: Arbeitslose, Obdachlose - oder Sandler, wie man in Wien sagt- und Gescheiterte. Sein Look ist eine Mischung aus 80er-Jahre-"Strizzi", einer Art Zuhälter, und Großstadt-Bohemien, inklusive Goldkette und Vokuhila-Frisur.
In einem sympathisch angeranzten Kaffeehaus in Ottakring erzählt Voodoo alias David Öllerer von seinen musikalischen Anfängen. "Ich bin so aufgewachsen: Dass man in Österreich mit der Musik durchkommt, das geht sich einfach nicht aus." Auf Hochdeutsch heißt das: Mit Musik kommt man nicht über die Runden. Viele Jahre tingelte denn auch Voodoo mit seiner ersten Band, den Eternias, durch die Gegend, aber von der Musik leben konnte er nicht. Damals sang er noch auf Englisch, einer Sprache, hinter der man sich "gut verstecken" konnte. Mit dem Wechsel zur Mundart kam der Erfolg. "Jetzt gibt es viele Leute, die was mit Dialekt machen. Die Geschichte funktioniert gerade. Ich sehe mich trotzdem nicht als Dialekt-Retter. Ich kann mich so halt am besten ausdrücken."
Kontinuität statt kurzfristiger Hype
Die Musik auf seinem Solodebüt klingt zeitlos, fast anachronistisch. Tom Waits oder Nick Cave schimmern ebenso durch wie Balkan-Elemente oder Jahrmarktmusik. "Es gibt Musiker, die ständig nach dem Neuen und Innovativen suchen", sagt Voodoo. "Ich bin so nie gewesen. Ich habe mich immer mehr für die Vergangenheit interessiert, mein ganzes Gewand auf dem Flohmarkt gekauft. Und so mache ich es auch mit meiner Musik."
Der Erfolg gibt ihm Recht. Neben einer zweiten Deutschlandtour hat Voodoo Jürgens sein nächstes Album in Planung. Neue Veröffentlichungen vom Nino aus Wien und Wanda stehen ebenfalls in den Startlöchern. Die Wiener Szene im Jahr 2016 ist quicklebendig. Aber ihr Erfolg ist kein plötzlich entstandener Hype, er ist von Künstlern und Musikbegeisterten über viele Jahre mühsam aufgebaut worden. Der Nino aus Wien fasst das so zusammen: "Viele ausdauernde Leute haben viel für sich gemacht. Und irgendwann war die Zeit bereit, damit rauszugehen." Die neue Wiener Szene ist gekommen, um zu bleiben.