Neue Klangerlebnisse mit Beethoven
11. Februar 2020Konzertabende, die Ludwig van Beethoven selbst veranstaltete, waren nie langweilig, denn man wusste nicht, was einen erwartete. Ähnlich ist es auch bei dem französischen Dirigenten François-Xavier Roth. Zum Beethovenjahr hat er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Mit seinem Programm "Allein Freyheit" knüpft er mit dem Kölner Gürzenich Orchester an die Konzertabende, die sogenannten "Akademien" von Beethoven, an.
"Beethoven hatte damals zeitgenössische Musik im Programm seiner Akademien", erklärt Roth. Die Konzerte seien sehr avantgardistisch gewesen, denn die Leute hätten oft nicht genau gewusst, was gespielt werden würde. "Wir haben diesen Aspekt für unsere Zeit mit einer 'neuen Akademie' aufgegriffen, immer mit der Referenz zu Beethoven." Über das Programm des Abends blieb das Publikum in der Kölner Philharmonie im Ungewissen.
Beethovens Akademien
Anders als in unserer westlichen Konzerttradition üblich gingen die Leute zu Beethovens Zeit nicht ins Konzert, um die alten Meister zu hören, sondern um das Neuste aus der Musikwelt zu erfahren. Beethoven hat ab 1800 immer wieder sogenannte "Akademien" im Sinne von organisierten Konzerten mit eigenen Kompositionen und denen seiner Zeitgenossen veranstaltet.
Die "Große musikalische Akademie", die Beethoven im Dezember 1808 "zu seinem Vortheile" in Wien abhielt, war nur noch von seiner eigenen Musik geprägt. Unter anderem präsentierte er seine Fünfte und Sechste Sinfonie. Er hatte die Musiker bestellt, den Konzertsaal gemietet, dirigierte und spielte Klavier. Sogar die Eintrittskarten soll er in seinem Wohnzimmer selbst verkauft haben.
Oft war vor diesen Akademie-Konzerten die Tinte auf dem Notenpapier noch nicht getrocknet, und Beethoven improvisierte einfach während der Aufführung. Das Unerwartete war bei ihm an der Tagesordnung. Im Eifer des Gefechtes flogen bei seinem Spiel auch schon mal die Kerzenständer vom Klavier. Das Publikum reagierte auf die Musik direkt mit Tumult oder Jubel.
Wachbleiben für Neue Musik
Ganz so turbulent geht es beim Programm von François-Xavier Roth nicht zu. Alles ist durchdacht und mit viel Fingerspitzengefühl ausgeführt, aber für Überraschungen ist der Franzose trotzdem gut. Unter anderem hat er einzelne Sätze aus Beethovens Vierter, Fünfter und Siebter Sinfonie sowie aus seinen Klaviersonaten und Konzerten mit Neuer Musik kombiniert. Dazu gehören Werke aus den 1960er Jahren von Bernd Alois Zimmermann, aus den 1980er Jahren von Helmut Lachenmann und die Uraufführung "Quasi una bagatella" von dem italienischen Komponisten Francesco Filidei. "Wenn wir so ein Programm spielen, dann fühlen und erleben wir Beethovens Musik automatisch anders", sagt Roth im Gespräch mit der DW. "Man hört in Kombination mit den neuen Werken, was das Moderne an Beethovens Musik war, warum er diese Dissonanzen komponiert hat und wie experimentell auch Passagen in seiner Musik klingen."
Roth liebt es, mit Klängen zu überraschen, die die Zuhörer nicht erwarten. Auf diese Weise will er beim Publikum die Lust an Neuer Musik wecken. Die Ausschnitte aus Beethovens Werken gehen in Roths Akademie-Konzert nahtlos eine Symbiose mit der Neuen Musik ein – ohne jeden Zwischenapplaus, verzahnt durch Musikpassagen von der Komponistin Isabel Mundry. Sie greift Geräusche aus dem Publikum in den Instrumenten ebenso auf wie Anklänge an bekannte Beethovenstücke.
Klanggewaltiges Feuerwerk
Die Zuschauer erleben einen regelrechten Klangrausch. Allein das Aufgebot an Instrumenten ist gewaltig. Fünf Schlagzeuger bedienen die verschiedensten Schlaginstrumente, zwei Flügel, Harfe und Orgel komplettieren das Orchester. Sphärische Klänge rund um Beethovens Mondscheinsonate hüllen die Zuhörer ein, dann wieder fliegt einem die Musik im positiven Sinne förmlich um die Ohren, wenn das Orchester bei Helmut Lachenmanns "Tableau" dem Publikum aus allen Ecken Klangfetzen zuwirft.
Mal wird es ganz leise virtuos, wenn etwa der international bekannte Pianist Pierre-Laurent Aimard Beethovens Klavierkonzert spielt, dann wieder erklingen ächzende Akkorde in den Streichern, die in eine rasante rhythmische Klangkulisse von Francesco Filidei münden. Über sich hinaus wächst das Orchester voller Leidenschaft bei Beethovens Fünfter und am Ende, wenn das volle Orchester die gewaltigen Klangstatuen eines Alois Zimmermann aufbaut. Ein Klangteppich, aus dem man als Zuhörer auftaucht wie Phönix aus der Asche, um wieder in der Realität anzukommen.
Ehrenpreis der deutschen Schallplattenkritik
Für seine Risikofreude und die neuen Akzente, die er als Generalmusikdirektor der Stadt Köln mit dem Gürzenich Orchester setzt, hat François-Xavier Roth gerade den Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen. Er habe neue Maßstäbe gesetzt, getreu nach seinem Motto "Musik provoziert. Das ist ein Erlebnis. Musik, die nicht provoziert, ist langweilig", heißt es in der Begründung. Das gilt auch für seine Arbeit mit dem von ihm gegründeten Originalklang-Ensemble "Les Siècles", das er zu internationalem Erfolg geführt hat. Auch hier werden die neuen Klangfarben gelobt. "Dieser Preis freut mich und bestätigt mich, innovativ und kreativ zu bleiben und weiterhin Risiken einzugehen", sagte Roth, denn er möchte noch viele spannende zukunftsorientierte Programme mit seinen Orchestern gestalten und dirigieren.
François-Xavier Roth, Pierre-Laurent Aimard und das Gürzenich Orchester sind mit diesem Programm im Februar noch am 16.02. in München, am 17.02. in Lyon, am 21.02. in London und am 24.02. in der Hamburg Elbphilharmonie zu Gast.