Gegen Judenfeindlichkeit hilft Erziehung
30. November 2018Deutsche Welle: Herr Goldschmidt, die Präsentation Ihres neuen Buches "An die Gemeinschaft und an die Welt", hier in Berlin, fällt in eine Zeit, in der verstärkt vor einem Wiederaufflammen des Antisemitismus in Europa gewarnt wird. Es gibt - nicht nur in Deutschland - wieder mehr religiös motivierte Straftaten gegen Juden. Sie beschwören in Ihrem Buch die Zukunft - muss die jüdische Gemeinde in Europa nicht eher Angst haben vor der Zukunft?
Pinchas Goldschmidt: Obwohl ich mit Zuversicht von der Zukunft spreche - und ich tue das als Jude, als gläubiger Jude, als Rabbiner, der immer optimistisch von der Zukunft spricht - muss man sich sicher Sorgen machen über die letzten Veränderungen in Europa. Wie auch jüngste Fernsehbilder gezeigt haben, gibt es leider eine Verschlechterung des Klimas gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in Europa.
Immer mehr jüdische Familien reagieren darauf und verlassen ihre Heimat oder ziehen dies zumindest in Erwägung - siehe Frankreich, Schweden oder auch Großbritannien. Sind das noch Einzelfälle oder sehen Sie darin eine Tendenz?
Die Zahl der Juden in Europa ist in einigen Ländern drastisch nach unten gegangen. Wir reden von einem Rückgang von mindestens 15 Prozent der jüdischen Bevölkerung, die aus Europa weggezogen ist. Aber es gibt auch einen kleinen Gegentrend: Die jüdische Gemeinde in Deutschland ist die einzige, die wächst. Das ist erfreulich, auch wenn das Gesamtklima gegen Juden eine andere Sprache spricht. Die Antwort auf Ihre Frage liegt bei den Regierungen. Was sind hier in Europa die Regierungen bereit zu tun, um die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung zu garantieren?
Mit anderen Worten: finden Sie, dass die Politik in Europa zu wenig tut und noch nicht die richtigen Schritte gegen den erstarkten Antisemitismus unternommen hat?
Viele Politiker sagen, ein Europa ohne Juden wäre unvorstellbar, es wäre kein Europa. Aber: die Sicherheit der jüdischen Institutionen, der Synagogen, Schulen und Gemeindehäuser muss von den jeweiligen Regierungen gewährleistet werden. Wenn wir von Maßnahmen gegen Terrorismus sprechen, wie wir ihn in Frankreich, Belgien oder Dänemark gesehen haben - dafür sind die Regierungen verantwortlich. Deshalb ist die Position der Konferenz der Rabbiner Europas, dass die Regierungen diese Verantwortung auch übernehmen müssen. So lange dies nicht geschieht, ist die jüdische Gemeinschaft hier verunsichert.
Andererseits ist heute der Antisemitismus in den Sozialen Medien sehr stark verbreitet. Die Sprache in den Sozialen Medien ist verroht, sie ist viel hässlicher geworden. Hier müssen Gesetze verabschiedet werden, hier muss auch der politische Wille da sein, um dieser neuen schlimmen Form des Antisemitismus entschlossen entgegen zu treten.
Kann man Judenhass mit Zäunen und verstärkter Polizeipräsenz vor jüdischen Einrichtungen, mit einer verstärkten Kontrolle in den Sozialen Medien eindämmen oder gar bekämpfen?
Nicht nur, das ist der eine Aspekt. Wichtig ist aber auch die Erziehung, vor allem der jüngeren Europäer, der neuen, zugewanderten Europäer, sich den europäischen Werten anzupassen. Hier spielt die Erziehung und Integration eine große Rolle.
Glauben Sie, dass die wachsende judenfeindliche Tendenz in Europa die Folge eines importierten Antisemitismus ist?
Nicht nur. Wenn wir heute von Antisemitismus sprechen, dann geht er einerseits tatsächlich vom islamischen Radikalismus aus, der viele Opfer in den letzten 15 Jahren gefordert hat. Auf der anderen Seite gibt es den rechtsradikalen "alten" Antisemitismus, wie man ihn nennen kann. Den gibt es nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, wie wir ihn vor einigen Wochen mit dem schrecklichen Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh erleben mussten. Ich glaube, dass die Gefahr, die von Rechtsradikalen ausgeht, nicht geringer ist als jene, die von islamistischen Terroristen ausgeht.
Richten wir unseren Blick auf Russland. Sie leben seit einigen Jahrzehnten dort und sind seit 1993 Oberrabbiner von Moskau. Wie ist es dort um die jüdische Gemeinde bestellt?
Juden sind in Russland willkommen. Heute leben circa eine halbe Millionen Juden sicher in Russland. Gerade in Moskau spielt sich jüdisches Leben auf hohem Niveau ab, zum Beispiel in vielen Einrichtungen und über 30 Synagogen. Als ich Ende der 1980er Jahre nach Moskau kam, gab es übrigens nur zwei Synagogen!
Die jüdische Gemeinde in Russland wächst durch Zuwanderung von Juden aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, etwa aus Zentralasien.
Aber es ist auch so, dass Juden Russland verlassen. Das aber in vergleichsweise geringen Zahlen, zieht man in Betracht, dass in den 1990er Jahren rund zwei Millionen Juden die auseinanderfallende Sowjetunion verlassen haben.
Und warum verlassen Juden heute Russland?
Es ist heute vor allem die wirtschaftliche Situation Russlands, der Verfall des Rubels, die Sanktionen und die zunehmende außenpolitische Isolation Moskaus, die Juden zum Verlassen des Landes bewegen.
Und dieser Trend bereitet uns gleichzeitig auch Sorgen. Es wachsen auch innerhalb der russischen Gesellschaft fremdenfeindliche Tendenzen. Was dies für unsere jüdische Gemeinde bedeutet, darüber sprechen wir verstärkt.
In Ost- und Südosteuropa - nehmen wir Tschechien, die Slowakei, Ungarn oder Rumänien - erblüht jüdisches Leben, jüdische Kultur trotz der massiven Abwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch dort vermehren sich judenfeindliche Äußerungen in Politik und Gesellschaft. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Wenn wir von Osteuropa sprechen, gab es kaum irgendwo eine Vergangenheitsbewältigung, wie wir sie aus Deutschland kennen, weder nach dem Zweiten Weltkrieg, noch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Geschichte wird leider oft ausgeblendet und die Frage nach der Mit-Verantwortung für den Holocaust oft unterdrückt. Aber es gibt dort wieder blühende jüdische Gemeinden. Und ja, es gibt auch immer wieder politische Kampagnen mit antisemitischen Zügen.
Weil wir über Osteuropa sprechen: Ich erinnere mich, als ich noch in der Zeit des Kommunismus als junger Rabbiner aus Israel vom Oberrabbiner Israels nach Rumänien entsandt wurde. Ich besuchte damals die größte rabbinische Eminenz in Osteuropa, Moses Rosen, um zu erfahren, wie man als Rabbiner in einem kommunistischen Land unter einem Diktator wie Ceausescu arbeiten kann und soll. Das war für mich eine Lehre für das ganze Leben. Historisch gesehen war Rabbiner Rosen der einzige osteuropäische jüdische Geistliche, der seine Gemeinde trotz Emigration und Diktatur aktiv behalten konnte.
Kommen wir zurück in die Gegenwart. Wie sehen Sie die Chancen eines interreligiösen Dialogs angesichts der wachsenden Polarisierung und des populistischen Diskurses in der Gesellschaft?
Der Dialog ist absolut essentiell, nicht nur auf religiöser Ebene zwischen den Weltreligionen, zwischen Muslimen, Juden und Christen, sondern auch mit liberalen Atheisten und unreligiösen Menschen. Heute werden die Werte, auf denen Europa nach dem 2. Weltkrieg aufgebaut wurde, verstärkt in Frage gestellt. Um Europa weiterhin als Zivilisation, als Union von verschiedenen Völkern und Staaten zu behalten, muss dieser Dialog weiter geführt werden.
Religionen werden oft im Kontext von Gewalt erwähnt. Dennoch geht von ihnen ein großes Frieden stiftendes Potenzial aus. Wie kann dieses Potenzial besser zur Geltung kommen?
Religion kann gewaltsam sein, Religion kann aber auch Frieden bringen. Es ist immer die Frage, was der Religion angehängt wird. Nehmen wir nur das letzte Jahrhundert, das 20. Jahrhundert - ich nenne es das säkulare Jahrhundert. Da gab es zwei große säkulare Bewegungen: den Nationalsozialismus und den Kommunismus.
Unser Jahrhundert hat mit dem Anschlag auf die USA von Osama bin Laden und Al Kaida angefangen. Ich glaube, dass die Religion wieder zurück in die Weltpolitik gelangt ist. Die wichtigen religiösen Führer der Welt, die an eine gemeinsame Zukunft glauben, müssen alle daran arbeiten, um den interreligiösen Frieden und den Frieden in der Welt wieder herzustellen.
Bald beginnt Channuka, das jüdische Lichterfest. Haben Sie eine besondere Botschaft an die europäischen Juden und Nicht-Juden?
Channuka feiern wir als den Sieg des Lichtes über die Finsternis. Es braucht nur ein kleines Licht, um die Finsternis zurück zu drängen. Wenn jeder Mensch, ganz gleich welcher religiöser oder politischer Auffassung, etwas dafür tut, um in dieser Welt mehr Frieden, mehr Liebe zu ermöglichen, dann entspricht das dem Symbol von Channuka: viele kleine Lichter können zusammen die ganze Welt verändern.
Pinchas Goldschmidt ist gebürtiger Schweizer, Ober-Rabbiner von Moskau und seit 2011 Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz. Er tritt offen für Religionsfreiheit und einen interkulturellen sowie interreligiösen Dialog mit Muslimen und Christen ein, um so eine wachsende Radikalisierung in der Gesellschaft zu bekämpfen.