Politkowskaja-Mord bleibt unvergessen
7. Oktober 2021Vor genau 15 Jahren - am 7. Oktober 2006 - starb Anna Politkowskaja. Die mehrfach ausgezeichnete russische Journalistin und Menschenrechtlerin wurde am helllichten Tag in Moskau erschossen. Sie wurde 48 Jahre alt. Die Täter sind längst verurteilt, doch der Mord gilt nun als verjährt.
Es ist eine Zäsur. Denn die Drahtzieher der Tat wurden nicht belangt. Sollten die Auftraggeber je gefasst werden, können sie straffrei davonkommen. Wurde überhaupt gegen sie ermittelt? Das versuchte Dmitrij Muratow herauszufinden, Chefredakteur der renommierten Zeitung "Nowaja Gaseta", für die Politkowskaja gearbeitet hatte. Das zuständige Ermittlungskomitee ließ seine Anfragen unbeantwortet, sagte Muratow dem Privatsender RTVI.
Erst vor wenigen Jahren, im Juli 2018, verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Russland wegen unzureichender Ermittlung im Fall Politkowskaja. Hinterbliebenen wurde eine Entschädigung zugesprochen. Geklagt haben Familienmitglieder, darunter die Mutter Raisa Masepa, die im Sommer 2021 in Moskau im Alter von 92 Jahren starb.
Vier Kugeln im Aufzug
Der Auftragsmord an Politkowskaja geschah an einem Samstag, kurz nach 16 Uhr. Die Journalistin kam gerade mit dem Auto nach Hause und brachte ein paar Einkaufstüten in ihre Wohnung in der Stadtmitte von Moskau. Sie wurde im Aufzug aus nächster Nähe erschossen. Eine der vier Kugel traf ihren Kopf.
In Russland, aber auch im Ausland schlug dieser Mord hohe Wellen. Als der russische Präsident Wladimir Putin wenige Tage danach Dresden besuchte, riefen ihm einige Demonstranten "Mörder!" hinterher. Die Tatsache, dass Politkowskaja ausgerechnet an Putins Geburtstag ermordet wurde, gab Anlass für Spekulationen. Manche glaubten, die Täter wollten dem Präsidenten ein makabres "Geschenk" machen. Ein direkter Zusammenhang wurde nie festgestellt.
Kriegs-Chronistin und Putin-Kritikerin
Anna Politkowskaja wurde 1958 in New York als Tochter eines sowjetischen Diplomatenehepaars aus der Ukraine geboren. Sie studierte Journalistik in Moskau, schrieb für diverse Printmedien und wurde Ende der 1990er Jahre als Reporterin für "Nowaja Gaseta" landesweit bekannt. Ihr Lebensthema war der zweite Krieg in der abtrünnigen russischen Teilrepublik Tschetschenien.
Politkowskaja reiste oft in den Nordkaukasus und schrieb ihre preisgekrönten Reportagen: unter anderem über Mord, Folter und Entführungen auf beiden Seiten. In ihren Berichten belastete sie auch den heutigen tschetschenischen Anführer Ramsan Kadyrow. Politkowskaja schrieb Sachbücher wie "In Putins Russland", in denen die Journalistin die autoritäre Herrschaft des Kremlchefs anprangerte.
"Sie war eine wirklich Getriebene", erinnert sich in einem DW-Gespräch die österreichische Journalistin und ehemalige Russland-Korrespondentin des Österreichischen Rundfunks, Susanne Scholl, die Politkowskaja persönlich kannte. Politkowskaja sei "getrieben von dem Wunsch gewesen, Gerechtigkeit zu erreichen, die Dinge, die passieren, an die Öffentlichkeit zu bringen, und getrieben von dem Gefühl, dass man das neue Russland nicht so verkommen lassen darf."
Auch als Menschenrechtlerin engagierte sich Politkowskaja: Sie half tschetschenischen Familien ebenso wie den Müttern getöteter oder vermisster russischer Soldaten. Dieses Engagement brachte ihr zahlreiche Auszeichnungen.
Lange Suche nach den Mördern
Die Suche nach dem Mörder und seinen Komplizen gestaltete sich schwierig. Obwohl die ersten Verdächtigen relativ schnell ermittelt werden konnten, brauchte es mehrere Gerichtsverfahren und acht Jahre, bis sie verurteilt wurden.
Schnell wurde klar, dass die Spuren der Täter nach Tschetschenien führten. Der erste Prozess begann 2008 und endete nach wenigen Monaten mit einem Freispruch - aus Mangel an Beweisen. Damals gab es nur drei Tatverdächtige: zwei Brüder, Ibragim und Dschabrail Machmudow, sowie den ehemaligen Polizisten Sergej Hadschikurbanow. Das Oberste Gericht kassierte 2009 den Freispruch und das Verfahren wurde neu aufgerollt.
Nach weiteren Ermittlungen weitete sich der Kreis der Verdächtigten aus. 2011 wurde Rustam, der dritte Machmudow-Bruder, gefasst. In einem separaten Prozess wurde 2012 Dmitrij Pawljutschenkow zu elf Jahren Haft verurteilt. Der ehemalige Moskauer Polizeioberst war Kronzeuge im Fall Politkowskaja. Er gestand, die Journalistin beschattet und die Tatwaffe besorgt zu haben.
Der wichtigste und bisher letzte Prozess begann im Januar und endete im Mai 2014 mit fünf Schuldsprüchen. Der eigentliche Mörder Rustam Machmudow wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Brüder Dschabrail und Ibragim bekamen 14 beziehungsweise zwölf Jahre Strafkolonie. Auch Sergej Hadschikurbanow bekam 20 Jahre Haft. Als Organisator des Mordes musste der tschetschenische Geschäftsmann, Kriminelle und Onkel der Machmudow-Brüder, Lom-Ali Gajtukajew, lebenslänglich hinter Gitter. Er starb 2017 in der Strafkolonie. Alle fünf bestritten die Tat.
"Ich glaube, dass sie irgendwo irgendwann mit ihren Recherchen an eine Stelle gekommen ist, die der obersten Führung Russlands nicht angenehm war. Und vor allem auch der obersten Führung Tschetscheniens", sagt Susanne Scholl. "Ich glaube, dass sie deswegen ermordet wurde."
"Libertango" zum Geburtstag
Ehemalige Kollegen und Hinterbliebene halten den Mord bisher für nicht aufgeklärt. Die "Nowaja Gaseta" fordert weitere Ermittlungen über die Auftraggeber. Ähnlich äußerten sich die erwachsenen Kinder der getöteten Journalistin: Ilja Politkowskij und Vera Politkowskaja.
Unermüdlich versucht "Nowaja Gaseta", Erinnerungen wachzuhalten, etwa mit einem Flashmob wie in diesem Jahr. An Politkowskajas Geburtstag Ende August schickten Menschen aus der ganzen Welt an die Redaktion selbst gedrehte Videos mit der Lieblingsmusik der ermordeten Journalistin, dem "Libertango" von Astor Piazzolla. "Wir werden keine Verjährungsfrist kennen", schrieb Chefredakteur Dimitry Muratow. 2018 entstand im Hof vor dem Redaktionssitz ein Blumenbeet. Auch Politkowskajas Mutter pflanzte rund 100 Stiefmütterchen. Auf Russisch heißen diese Blumen "Ännchens Augen".