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Monsterprozess in den Ardennen

Alexander Kudascheff25. Februar 2004

In Brüssel leben die Eurokraten - und man kann die NATO gleich dazustellen - alle im Raumschiff Europa. Dagegen ist Belgien kein Thema. In der Regel.

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Ob neue Aufgaben für neue Superkommissare, ob neue Stäbe für neue europäische Verteidigungsstrategien, ob neue Zölle für amerikanische Exporte im neuer Auflage eines WTO-Handelskrieges - all das bewegt alle Europäer in der Hauptstadt Europas. Und auf allen gesellschaftlichen Veranstaltungen, in allen Hintergrundgesprächen kann lang und gelegentlich auch langatmig über das Verhältnis der EU zu Russland oder zum neokonservativen Iran gestritten und nachgedacht werden, auch über eine neue industriefreundlichere Wende der Kommission - es interessiert immer alle - und zwar leidenschaftlich.

Belgien: Kein Thema?

Belgien dagegen ist - jenseits der üblichen Kalauerthemen - normalerweise wenig interessant. Man weiß, wer regiert. Man weiß, wer opponiert. Man kennt den Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen. Man hat sogar eine Meinung, ob es sich besser in Brüssel oder Antwerpen leben lässt. Aber sonst: ist Belgien kein Thema. Und doch wendet sich in Brüssel in diesen Tagen das Interesse, unter der Oberfläche, schon spürbar.

Denn Belgien starrt auf den kommenden Montag, auf den ersten März. Ganz Belgien schaut dann nach Arlon, an der luxemburgischen Grenze. Denn: dort beginnt der Dutrouxprozess. Ein Mammutprozess, ein historischer Prozess gegen ein Monster, der die Gemüter ganz Belgiens aufgewühlt hat. Fast acht Jahre saß Marc Dutroux in Untersuchungshaft - einschließlich eines erstaunlicherweise fast geglückten Fluchtversuch des größten, des zumindest bekanntesten Verbrechers Belgiens - bis der Prozess gegen ihn beginnen konnte.

Das Land zittert vor Empörung

Sechs Mädchen hatte Dutroux entführt, vergewaltigt, gefoltert, monatelang unter schrecklichsten Umständen festgehalten - vier von ihnen starben . Dutroux wurde zum Enigma der belgischen Gesellschaft. 300.000 Belgier fanden sich 1996 zu einem stillen, die Wut ebenso unterdrückenden wie ausdrückenden, Protestmarsch zusammen. Bis heute zittert Belgien vor Empörung, wenn es an die Morde von Dutroux denkt, Bis heute empfindet jeder Belgier dieselbe Wut und Beschämung. Bis heute halten sich wilde Verschwörungstheorien in der belgischen Gesellschaft - am Stammtisch ebenso wie bei der gehobenen Soiree - an wen der Kinderschänderring seine Photos und vielleicht auch Kinder geliefert haben könnte. Und diese wilden Verschwörungsspekulationen machen vor nichts und niemand halt.

Der Dutrouxprozess ist der Jahrhundertprozess Belgiens. Er arbeitet einen tiefen gesellschaftlichen Bruch der belgischen Gesellschaft auf. Das wird nicht zur Sprache kommen - aber atmosphärisch mitschwingen. Und erst der erwartete Urteilspruch "Lebenslänglich" wird Belgien aufatmen lassen. Und deswegen hat die Spannung auch inzwischen das Raumschiff Brüssel erreicht. Alle ahnen, in den nächsten Wochen wird die Belgier vieles interessieren - aber nur eins bewegen: der Dutrouxprozess.