Lehrerin in der Provinz
22. Mai 2009
1989 war Mo Lihua Lehrerin an der Pädagogischen Fachschule von Shaoyang in der zentralchinesischen Provinz Hunan. Peking war weit weg, und die 34jährige hatte mit der Protestbewegung zunächst wenig zu tun. Aber die politische Botschaft der Studenten verbreitete sich im Lande wie ein Lauffeuer, insbesondere nach dem Beginn des Hungerstreiks der Pekinger Studenten am 13. Mai. Überall in China sympathisierten die Menschen mit den Studenten auf dem Tiananmen-Platz, überall keimten Hoffnungen auf Veränderung.
Auch Mo Lihua war von der Demokratiebewegung begeistert. Demokratie einfordern und Korruption bekämpfen – das waren Forderungen, mit denen die Studenten auch ihr aus dem Herzen sprachen. Als ihre Studenten in Shaoyang auch auf die Strasse gingen, ließ sie sich von der allgemeinen Stimmung mitreißen. "Nach dem Beginn des Hungerstreiks in Peking war auch ich völlig aufgewühlt. Ich dachte, ich muss meine Haltung klar zeigen. Also demonstrierte ich gemeinsam mit den Studenten.“
Geplante Selbstverbrennung
Am 19. Mai verhängte die Regierung unter dem damaligen Premier Li Peng das Kriegsrecht. Das heizte die Stimmung weiter an, auch in Shaoyang. In diesem emotional aufgeladenen Klima gediehen auch abstruse Ideen. Die Exilschriftstellerin erinnert sich an zwei Studentinnen, die in der Studentenvertretung engagiert und schon früh in die Proteste eingebunden waren. "Beiden stand zu dem Zeitpunkt schon die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben, genauso wie ihre Empörung. Da fassten sie den Entschluss, nach Peking zu fahren und sich dort auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst zu verbrennen. Sie wollten sich für die Demokratie opfern.“
Mo Lihua begleitete die Studentinnen nach Peking, um sie von ihrer Märtyrermission abzuhalten. Sie hatte Erfolg. Drei Tage vor dem Massaker - am 31. Mai - schaffte sie es, die beiden jungen Frauen sowie drei weitere ihrer nach Peking angereisten Studenten wieder zurück nach Hunan zu bringen. Zu Hause hörte sie über internationale Radiosender, wie der Tiananmen-Platz blutig geräumt worden war. Ihre Fassungslosigkeit war groß. "Ich habe in Peking auf dem Platz ja Zelt um Zelt viele junge Studenten aufgesucht. Diese Jungen und Mädchen waren voller Lebensfreude" erinnert sie sich.
Nur ein paar Tage länger, und sie selbst und ihre Studenten hätten auch unter den Opfern sein können. "Wir sind nur zufällig rechtzeitig vom Platz gegangen", sagt sie. An ihrer Schule fand am Abend des 4. Juni eine Trauerfeier für die Opfer statt. Mo Lihua war die erste, die ans Rednerpult ging. Und die Studenten verteidigte. "Ich betonte: Ich habe gesehen, dass die Studenten friedlich demonstriert haben. Ausschließlich friedlich. Das können keine Gewaltverbrecher gewesen sein. Am Ende haben wir alle gemeinsam geweint.“
Stolz und Tränen
Der öffentliche Auftritt blieb nicht ohne Folgen. Ein halbes Jahr lang saß Mo Lihua in Untersuchungshaft, bis sie zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Die Verhandlung war an Heiligabend 1989. In ihrem Plädoyer betonte sie, dass sie sich nicht gegen das sozialistische System gestellt habe. Und während sie ausführte, dass sie ihren Studenten das Leben gerettet habe, saß ihre Mutter im Gerichtssaal und weinte. "Da ging ein alter Mann zu ihr und bemerkte: Was weinst du so? Wenn ich so eine Tochter hätte, ich wäre stolz auf sie!“
Auch wenn im heutigen China Geld verdienen mehr zählt als der Einsatz für Ideale: Die ehemalige Lehrerin setzt sich im schwedischen Exil weiter gegen Unterdrückung ein. Sie protestiert gegen die Todesstrafe. Sie kämpft für inhaftierte Autoren. Ihr Credo: So wie jener eine Mann, der sich am 5. Juni einer ganzen Kolonne schwerer Panzer in Peking in den Weg stellte, so will sie den Geist des 4. Juni fortführen – den Geist der Zivilcourage.
Autor: Shi Ming
Redaktion: Mathais Bölinger